„Mütend zerschöpft“ oder: „Wider die Corona-Begrenzung disruptiv Lernprozesse entgrenzen“

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Ich gestehe es, ich bin auch „mütend“ (ZEIT, 31.03.2021) und „zerschöpft“(Sascha Lobo, Spiegel online 28.04.2021) von der anhaltenden Corona-Pandemie. Wenn sich nicht zwischendrin in mir eine disruptive Seite melden würde und voller Energie die Zerschöpfung links liegen ließe. Da hat uns die Lehrmeister:in Corona ganz schön zum Lernen gezwungen. Mit Corona als höhere Macht wurde unsere „alte Normalität“ außer Kraft gesetzt und das was wir kannten aufgelöst und in Frage gestellt. Beratung, Supervision, Training? … bei hohen Inzi-denzen? … nur online? … dann doch lieber ausfallen lassen? Oder treffen wir uns dann doch in Videokonferenzen, um uns gesichtslos den PowerPoint-Schlachten zu ergeben? Und ohnmächtig der dahin-bröckelnden Internetverbindung ins Nichts zu folgen und dabei vom Mythos der Unmittelbarkeit und Tiefe der alten schönen Präsenzprozesse zu träumen? „On-line-Prozesse werden nie die Qualität und die Tiefe der Prozesse in einem Beratungszimmer oder einem Fortbildungsraum erreichen“ (so eine Trainerkollegin). Mit solchen gut gepflegten Glaubenssätzen entlassen wir uns aus der Verantwortung. Corona hat so betrachtet eine große disruptive (auflösende) Kraft, wenn wir beherzt über die Klippen der ersten Erfahrungen des Scheiterns hinwegspringen und uns einladen lassen zu einer Selbstdisruption, die neue Lernprozesse ermöglicht. Und dann geht es nicht um die Frage, wie wir die alten Präsenzprozesse 1:1 in den Online-Raum übersetzen. Sondern um das Weiterentwickeln und das Entgrenzen im positiven Sinne, da wo schon vor Corona unser „altes Denken“ Prozesse begrenzt hat.

Zur Fort-bildung muss man fort-gehen und für Beratung muss man zu vereinbarten Terminen in der Zukunft Berater:innen aufsuchen. Und Teamsitzungen gehen nur am gleichen Ort mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Warum Präsenzprozesse auch eine stark begrenzende Seite haben…

Egal, ob wir uns fortbilden, beraten werden oder uns in einer Teamsitzung treffen: es geht im Kern immer um Kommunikation. Und diese fand in der alten Normalität für die Beteiligten immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort statt. Das heißt auch: Wenn ich eine Fortbildung in drei Monaten gebucht habe, muss ich nicht nur zu dem Termin körperlich anwesend sein. Ich sollte auch das gleiche Interesse und die gleiche Motivation wie zum Zeitpunkt der Anmeldung haben und ich sollte fit sein. Denn es gibt nur eine Chance, die Inhalte aufzunehmen und zu verarbeiten, nämlich zum vereinbarten Zeitraum. Gleichzeitig entstehen durch diese Begrenzungen (gleicher Ort und gleiche Zeit) Formate, die Prozesse in ihrer Form begrenzen. Kennenlernen, Erwartungen austauschen, Ziele klären, sich mit den Themen beschäftigen, Lösungen erarbeiten, … findet dann nur im vereinbarten Zeitrahmen statt.

Die Unterscheidung von synchroner und asynchroner Kommunikation kann ein wichtiger Schlüssel sein zur „Entgrenzung“ von Prozessen.

Ein paar Beispiele: Seit Corona nutze ich für viele Fortbildungsprozesse einen virtuellen Notizblock, ein Etherpad (https://yopad.eu/), um mit den Teilnehmer:innen schon im Vorfeld Ziele, Fragen, Themen, Erfahrungen und Erwartungen zu sammeln. Menschen können so unabhängig von Zeit und Ort ihre Beiträge notieren, auf andere Beiträge reagieren, sich zu Zeitpunkten mit Inhalten auseinandersetzen, zu denen sie es bisher noch nicht getan haben. „Es war eine eigenartige Erfahrung, mich schon weit vor der eigentlichen Veranstaltung (gemeint ist hier eine Videokonferenz) mit den Inhalten und Themen zu beschäftigen. „Es war, wie wenn ich schon vor der Fortbildung erste Lernimpulse nutzen konnte“ so eine Rückmeldung. Natürlich kann ich auch eine Mail oder einen Brief schreiben (auch eine Form asynchroner Kommunikation), aber durch das Tool Etherpad entsteht etwas, das sonst nicht möglich wäre: alle lesen wechselseitige die Beiträge, beziehen sich schon im Vorfeld aufeinander. Immer wieder habe ich erlebt, dass sie sich schon über ihre Beiträge erste Antworten auf ihre Fragen gaben.
Oder ein Team nutzt im Alltag eine virtuelle Pinnwand (Miro, Mural, Conceptboard, Flinga, … ), auf der unabhängig von Zeit und Ort miteinander Ideen, Erfahrungen, Fragen u.a. geteilt, ausgetauscht und bearbeitet werden können. So ging es in einem Prozess um die Frage, wie man als Kita-Team an der Weiterentwicklung der Elternarbeit in Corona-Zeiten arbeiten könnte, wenn durch Corona-Regelungen Teamsitzungen reduziert bzw. erschwert sind. Das Team sammelte zu diesem Thema asynchron zunächst Leitfragen und dann Ideen dazu auf einer virtuellen Pinnwand, in einem dafür eingerichteten Bereich. D.h., jede konnte zu dem Zeitpunkt, wo dafür Luft war oder man gerade eine Idee hatte, diese Idee auf der Pinnwand notieren. Dabei war es auch möglich, bereits vorhandene Ideen auf der Wand zu ergänzen, zu kommentieren und zu priorisieren. Und das alles ohne Teamsitzung. Die Teamsitzung selbst wurde dann für einen systematischen Abschluss genutzt.
In einer Online-Fortbildung zum Thema „Merk-würdig beraten und Trainieren“ bekamen die Teilnehmer:innen im Vorfeld ein Päckchen mit vielfältigem kreativen Material zugeschickt. Über ein Padlet (auch eine Form virtueller Pinnwand, jetzt aber als Lernplattform genutzt) konnten die Teilnehmer:innen schon vor der Fortbildung Inhalte bearbeiten, sich vorstellen und vorbereiten. So konnten die Teilnehmer:innen schon zeitnah zur Anmeldung, entsprechend einer an ihren Alltag angepassten Zeitplanung Impulse aufgreifen und nutzen. In der dann folgenden Videokonferenz stiegen wir schon wesentlich schneller und tiefer ein, als das in einer Präsenzfortbildung möglich gewesen wäre.
Inzwischen gliedere ich immer öfter die Vermittlung von Inhalten aus dem eigentlichen Gruppenprozess (Videokonferenz, Präsenzveranstaltung) aus, damit wird die wertvolle Präsenzzeit für den Austausch, die Fallarbeit u.a. nutzen können. Dabei bekomme ich immer wieder die Rückmeldung, dass die Teilnehmer:innen gerade durch den asynchronen Prozess sich die Inhalte besser aneignen können. Sie bestimmen selbst, was sie sich, in welchen Tempo und wie oft anschauen und bearbeiten. Begrüßt wurde die Möglichkeit, sich auch im Alltag, wenn die entsprechenden Themen „aufpoppten“, nochmal passend dazu Inhalte abrufen zu können.
Auch Beratungsprozesse können, mit Tools die asynchrone Kommunikation bzw. selbstgesteuerte Information ermöglichen, entgrenzt und bereichert werden. Häufig geht es in Beratungen auch darum durch inhaltliche Impulse Lern- und Veränderungsprozesse anzustoßen oder zu vertiefen. Beratungsprozesse können dann entlastet werden, wenn man im Vorfeld oder zur Nachbereitung Inhalte didaktisch gut aufbereitet in einer Selbstlern-Plattform anbietet. Zum Beispiel durch thematische Padlets (Pinnwände mit Informationsimpulsen, Reflexions- und Leitfragen sowie Links zu entsprechenden Ressourcen im Internet, https://de.padlet.com/). So habe ich viele Jahre vor Corona Menschen bei beruflichen Neuorientierungen unterstützt. Fragen rund um Bewerbungsstrategien, Erstellung von Bewerbungsunterlagen hatte ich dann ausgegliedert in eine Selbstlernplattform.

„Just in time“ oder erst in Wochen und Monaten, wenn die Fort-Bildung ist?

Wann erhalte ich als Teilnehmer:in Zugriff auf die Inhalte? Wenn sie im Fortbildungskalender stehen oder dann, wenn ich sie brauche? Ich habe eine Online-Fortbildung zur Ziel- und Auftragsklärung für Schulsozialarbeiter:innen entwickelt, bei der man schon mit der Anmeldung inhaltlich starten kann. Die Gruppenaustauschphase findet dann zu einem festgelegten Termin synchron statt. Die Rückmeldung ist häufig: „Es war total hilfreich, schon mit der Anmeldung Zugriff auf die Inhalte zu erhalten. Denn gerade, weil mich das Thema beschäftigt hat, habe ich mich ja angemeldet. Ich musste so nicht Monate warten bis zu dem Termin.“ Ein anderes Beispiel: immer wieder mal biete ich für die gleiche Zielgruppe eine Sommerwerkstatt an zum Innehalten, Auswerten und sich neu Fokussieren. Coronabedingt war dies 2020 nicht mehr möglich. Es entstand eine Online-Fortbildung, die sich über einen ganz neuen Zeitraum erstreckte: über ca. drei Monate. Ich stellte immer wieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten neue Inhalte und Übungen zur Verfügung. Dies erlebten viele nicht nur als Reminder (Erinnerung) sondern als einen Rahmen, in dem sie immer wieder eingeladen wurden, dranzubleiben. Dadurch löste ich mich von den klassischen begrenzten Veranstaltungs- und Zeitformaten, wie z.B. einer zweitägigen Fortbildung mit einer Netto-Arbeitszeit von ca. 10 Stunden. Es lohnt sich, einmal auszurechnen, wie viel, bzw. wie wenig Zeit wir Netto in Fortbildungen an Themen und Inhalten arbeiten. Da drängt sich geradezu die Frage auf, ob es nicht sinnvoll ist die Grundstruktur grundsätzlich zu überlegen, Inhalte in asynchrone Kommunikations- und Lernformen auszugliedern und die wertvolle Präsenzzeit nur noch für den Austausch, die Fallarbeit, die Entwicklung von Lösungen etc. zu verwenden.

„Deutschland hat die Digitalisierung nicht ver-schlafen, sondern unterdrückt“
(Süddeutsche Zeitung, 23.11.2020, https://www.sueddeutsche.de/digital/digitalisierung-politik-kommentar-1.5112615)

Was in manchen Arbeitsbereichen schon selbstverständlich ist, ist in den Arbeitsfeldern Schule, Fortbildung und Beratung für viele noch Neuland. Während die einen anfangen, sich das Neuland (natürlich unter dem Druck der höheren Macht Corona) zu erschließen, richten sich die anderen schon auf das Ende von Corona ein, bei dem sie dann (endlich) wieder zur gewohnten alten Normalität zurückkehren können. Doch wenn wir Lern- und Veränderungsprozesse von den Herausforderungen der Menschen und den entsprechenden Zielen und Aufgaben herdenken, dann hat die Corona-Beschränkung fast paradoxe Auswirkungen: sie zeigt neue Möglichkeiten der Entgrenzung von Prozessen auf. Was den Blick darauf trübt, ist erst einmal der katastrophale Zustand der Infrastruktur und der technischen Voraussetzungen. Viele Bereiche (Schule, soziale Arbeit, etc.) waren zu Beginn der Krise nicht mit den entsprechenden Endgeräten ausgestattet, von einer stabilen Internetverbindung ganz zu schweigen. Und ganz zu schweigen davon, was es über eine Gesellschaft und ein Land aussagt, das immer noch glaubt, zu den besten der Welt zu gehören, wenn der häufigste Satz in Videokonferenzen heißt: „Hört man mich?“ Und auf die Frage: „Welchen Browser benutzen Sie?“ die Antwort lautet: „Fritzbox.“ Das mag auf den ersten Blick lustig erscheinen, zeigt aber die ganze Misere auf. Das macht deutlich, dass viele sich nicht wirklich entsprechende notwendige digitale Kompetenzen angeeignet haben. Sie mussten es auch nicht. Da wurschteln sich Erwachsene, die sich berufen fühlen, Kinder und Jugendliche „auf den richtigen Weg zu bringen“ durch, während Ihre Zielgruppe zu der Bevölkerungs-gruppe gehört, die fast vollständig im Internet unterwegs ist und für die der Online-Raum zu einem wichtigen Teil ihres Sozialraumes geworden ist. (Sehr lesenswert die jährlich erscheinenden JIM-, KIM-, Mini-KIM-, FIM- Studien, die jährlich das Mediennutzungsverhalten von Kindern, Jugendlichen und Familien untersuchen. So nutzten bereits 2018 rund 94% der Zwölf- bis 13-Jährigen Online-Dienste. https://www.mpfs.de/startseite/ )
Teilhabe in der Gesellschaft, sozial, beruflich und gesellschaftlich, wird wesentlich von der Möglichkeit und der Kompetenz abhängen, sich auch in der Online-Welt orientiert zu bewegen. Wer also Menschen „bilden“ will, sich berufen fühlt, Benachteiligung abzubauen oder gar Teilhabe zu ermöglichen, wird um diese Online-Welt nicht herumkommen. Ganz zu schweigen davon, dass die Zukunft dieser Gesellschaft und damit die Bewältigung der Herausforderungen davon abhängt. Das heißt aber nicht, wie manche befürchten, dass jetzt einfach nur alle Prozesse ins Internet verlegt werden. Das ist nur Ausdruck des „alten Denkens“ einer auf den Mythos der ausschließlich auf Präsenzprozesse ausgerichteten Vor-Corona-Zeit.

Online wegen Corona oder hybrid wegen der Her-ausforderungen und der damit einhergehenden Lern- und Veränderungsprozesse? Entgrenzung statt Begrenzung.

Es geht nicht um die Digitalisierung von Prozessen, sondern um die Entgrenzung von Prozessen. Nehmen wir das Beispiel „Online-Beratung“. Hier wurde ich in den letzten Wochen vermehrt angefragt für Schulungen. Weil viele jetzt unter Corona-Bedingungen vermehrt auf Online-Beratungen zurückgreifen müssen, bevor Beratung sonst vielleicht gar nicht stattfindet. Ein paar methodische Tricks und Kniffe, damit wir gut durch die Corona-Zeit kommen. Aber wenn man dann genau hinschaut, entdeckt man plötzlich, dass sich da ganz neue Prozesse schon lange vor der Corona-Pandemie entwickelt haben. Prozesse, bei der die zentrale Perspektive nicht ist, wie man jetzt am Telefon oder über Videokonferenz gut beraten kann. Sondern wie man den Beratungsprozess grundsätzlich nicht mehr von der Berater:in her denkt, sondern von der „Beratungskund:in“. Auf welchem Wege möchte diese Kontakt aufnehmen und beraten werden? Macht es Sinn, bedürfnis- und kontextbezogen den Kommunikationskanal zu wechseln? So könnte eine Beratung auch über E-Mail beginnen, in einem Beratungsraum Zwischenstation machen, um dann per SMS Zwischenfragen und Rückmeldungen auszutauschen. Analog zum „Blended Learning“ sprechen wir dann vom „Blended Counseling.“ Das hat weitreichende Konsequenzen: es ist dann nicht mehr die Berater:in, die die Zugänge zu Beratung allein bestimmt. Wir denken dann von den Menschen, Themen, Herausforderungen und Kontextbedingungen her. Wir ermöglichen entsprechend der Unterschiedlichkeit von Menschen die unterschiedliche Gestaltung von Prozessen.
Wenn ich ehrlich bin, habe auch ich diese Prozesse vor der Corona-Pandemie nicht wirklich nach diesen Aspekten ausgerichtet. Heute denke ich immer mehr Prozesse von den Beteiligten und den entsprechenden Zielen und Anliegen her hybrid und verknüpfe Elemente aus dem Präsenzraum mit Elementen aus dem Online-Raum. Dadurch lösen sich fest eingespielte Formate auf. Selbst Arbeitsformate wie Beratung, Supervision und Training sind letztendlich Begrenzungen von Prozessen durch die Definition von Formaten. Zu mir kommt niemand in die Beratung wegen der Beratung. Zu mir kommen Menschen mit Themen, Fragen, Anliegen, Bedürfnissen. Und im Prozess wechselt dann häufig der Bedarf. Mal braucht es beratende Fragen, mal Information, mal Angebote zur Reflexion und mal wäre Austausch mit anderen wichtig. So kann ich durch entsprechend erarbeitete unterstützende Instrumente, wie Literatur- und Themen-Padlets, zum Beispiel in einer Beratung zum Selbstmanagement auf entsprechende Instrumente und Werkzeuge zur eigenständigen Vertiefung verweisen. Dort finden die Kund:innen weitere Informationen bis hin zu Anleitungsvideos. Sie entscheiden dann selbst, ob und wie tief sie den Angeboten folgen, selbstgesteuert und selbstwirksam. Inzwischen habe ich auch eine Möglichkeit gefunden, meine eigenen Lernpfade im Internet (z.B. Recherchen zu einem Thema) als ergänzende Ressource zur Verfügung zu stellen. So teile ich über raindrop.io themenbezogen und mitwachsende Linksammlungen. Schaut man sich z.B. das Selfhelper-Programm (https://www.benfurman.com/selfhelper/) von Ben Furman an, sieht man, wie Menschen dazu angeleitet werden können, sich selbst zu beraten bzw. ihre eigenen Prozesse zu strukturieren oder gar schon vor einer Beratung an ihrem Thema zu arbeiten. Was sich damit verändern kann, ist unser grundsätzliches Lernverständnis und damit auch das Verständnis unserer eigenen Rolle. So haben sich vielleicht nicht gerade zufällig die Begrifflichkeiten verändert. Während wir in der (Präsenz-) Schule noch von Lehrplänen, Lehrer- und Klassenzimmern sprechen, sprechen wir im Online-Raum von Lernplattformen und von Selbstlernphasen.

Selbstgesteuertes Lernen, Eigenverantwortung oder Fremdverantwortung

Natürlich tun sich manche schwer mit diesen neuen Online-Formen. Auch das spiegelt sich in Rückmeldungen wider. Da fällt es eben schwer, sich Lernzeiten im Alltag einzuplanen und wider die Alltagsanforderungen einzuhalten. Das aber ist doch auch ein Hinweis auf die eigene Haltung, eigene Priorisierungen und die eigenen Selbststeuerungskompetenzen. Wenn wir Präsenz-Fortbildungen ansetzen, über-nimmt die Steuerung von Zeit, Raum, Struktur und Organisation von Anfang an die Referent:in. Ich habe dann halt mittwochs im Bildungshaus XY anzutreten und bin dann bis Donnerstagabend von der Referent:in durchgeplant. Um allen Missverständnissen deutlich vorzubeugen: ich rede hier nicht der Abschaffung von Präsenzfortbildungen das Wort. Ich zeige nur Prozesse auf, die meines Erachtens durch die entsprechenden Unterscheidungen und Rückmeldungen sichtbar werden. Es gibt Prozesse, die sind im Präsenzraum eher möglich, denken Sie zum Beispiel an informelle Kommunikationsprozesse beim Frühstück und Abendessen. Und andere Prozesse sind besser online möglich, z.B. niedrigschwelliger, näher an dem Zeitpunkt, zu dem spezifische Inhalte oder Kompetenzen gebraucht werden asynchron zu lernen und zusammenzuarbeiten.
Die von manchen beschriebenen Nachteile des On-line-Lernens und Zusammenarbeitens haben nichts mit dem Kanal („online“) zu tun, sondern mit unseren Gewohnheiten, Haltungen und gelernten Mustern. So ist man leicht in der Gefahr, wenn man im Arbeitsalltag selbst und eigenständig seine Lernzeiten organisieren und gestalten muss, diese als Puffer für alles andere Wichtige zu nutzen. Diese Form des Lernens bringt Teilnehmer:innen eben nicht nur in Lernprozesse zu den Themen und Inhalten, sondern auch über sich selbst. Wie viel Raum räume ich meiner eigenen Weiterentwicklung, meinen Lernprozessen im Arbeitsalltag ein? Wie übernehme ich dafür selbst Verantwortung? Wie steuere ich mich selbst? Daher ist in den von mir angebotenen Selbsterkundungsphasen meistens ein fester Bestandteil eine kurze Einheit zum Thema: „Wie organisiere ich meine Lernprozesse bzw. Lernzeit?“ Dabei werden wichtige „Metakompetenzen“ angeregt. Wer lernt, seine eigene Selbststeuerung zu aktivieren und zu vertiefen, lernt eben auch, sich Inhalte und Themen anders, nachhaltiger und auf seine eigene Art und Weise anzueignen, anzuwenden und weiterzuentwickeln.

Berater:innen, Trainer:innen, … : Veränderung der Rolle und des Selbstverständnisses vom (Be-) Lehren zum Gestalten von Kontexten für selbst-gesteuerte und eigenverantwortliche Lern- und Veränderungsprozesse

Das hört sich zwar etwas sperrig in der Zwischenüberschrift an, aber wenn wir uns als Berater:innen oder Lehrer:innen begreifen, verstehen wir uns als Vertreter:innen von Formaten und damit von Begrenzungen. Dann müssen wir eben diskutieren, wo Lehre endet, ob wir gerade Beratung oder Supervision machen. Doch das ist die Perspektive der „Profis“ und nicht der Kund:innen. Die suchen Lösungen auf ihre Fragen und Herausforderungen. Doch wenn wir von unseren Teil-Nehmer:innen her denken, dann geht es darum, einerseits die Fragen und Herausforderungen zu verstehen und einen dafür förderliche Kontext und einen hilfreichen Rahmen zu schaffen. Dann aber sollten wir von Teil-Geber:innen ausgehen, die in ihrer Unterschiedlichkeit ganz eigene Lernpfade beschreiten und auf bereichernde Art und Weise ihren Teil zu den entsprechenden Prozessen beitragen (Teil geben) und nicht Inhalte konsumieren (Teil nehmen). Und in dem sie nicht sagen: das war eine gute Beratung, sondern: ich habe mir einen wichtigen Schritt erarbeitet, dieser wechselseitige gemeinsame Prozess hat für mich einen relevanten Unterschied gemacht.

Von der Zer-schöpfung zum Aufbruch

Mich hat diese Zeit an der ein oder anderen Stelle zer-schöpft, weil die letzten Wochen und Monate ein Kampf mit vielen unnötigen Begrenzungen war. Und andererseits habe ich ganz neue Lernpfade beschritten. Dabei habe ich gerade in den Erfahrungen des Scheiterns viel über meine eigenen Begrenzungen in der Gestaltung von Lern- und Arbeitsprozessen gelernt. Ich bin dankbar für die Menschen, die ich zwar bisher nicht in Präsenz-Begegnungen kennenlernen durfte, denen ich aber online gefolgt bin (stellvertretend für die vielen: Nele Hirsch, e-Bildungslabor, https://ebildungslabor.de/); die meine Arbeit durch ihr Mit-Teilen von Erfahrungen, möglichen Wegen und kritischen Fragen bereichert haben. Und die damit die Seite in mir gestärkt haben, die aufgebrochen ist, die eigenen Wege kritisch zu beleuchten. Diese Seite ist nicht mehr bereit, nach Corona zu der Zeit vor Corona zurückzukehren. Sondern die Lernimpulse mitzunehmen. Denn am Schluss ist das das größte Geschenk des Lebens: ständig lernen zu dürfen und sich weiterzuentwickeln. Nicht das Bestehende durch Begrenzungen zu sichern, sondern das Bestehende durch Entgrenzung weiterzuentwickeln.

Ver-frag-ung

Ver-frag-ung statt Ver-antwort-ung

In vielen Supervisionen, Beratungs- und Trainingsprozessen steht immer wieder die Frage nach der Verantwortung im Vordergrund. Für was bin ich in der Gestaltung von Lern- und Veränderungsprozessen verantwortlich? …für was mein Gegenüber, die Kund/in, die Teilnehmer/in, die jeweilige Gesprächs-partner/in? Schnell fühlen wir uns für Prozesse und deren Ergebnisse verantwortlich: Was kann ich noch anbieten? Wie kann ich ihr/ihm Lösungswege auf-zeigen? Was kann ich ihr/ihm raten, vorschlagen, empfehlen? Wie kann ich das Gespräch so führen, dass er/sie begreift, merkt, versteht, annimmt …? Und schon sind wir mittendrin im Verantwortungskarussell.
Häufig beginnt sich das Karussell schon im Prozess der Ziel- und Auftragsklärung zu drehen. Da fragen wir zwar noch nach den Zielen unseres Gegenübers, kaum glauben wir aber das Ziel verstanden zu haben, legen wir auch schon mit dem Arbeiten los. Zu schnell springen wir in die inhaltliche Arbeit am Anliegen unseres Gegenübers. Schnell vergessen wir, dass die Ziele unseres Gegenübers nicht unsere Aufträge sind. Eigentlich müsste man noch nachfragen, was denn die Erwartungen an uns, in Zusammenhang mit den geäußerten persönlichen Zielen sind. Eigentlich müssten wir prüfen, ob wir diese Erwartungen als Auftrag annehmen können oder ob wir nicht noch eine Runde Auftragsklärung drehen müssten. Schneller als wir es vielleicht wahrnehmen, fühlen wir uns verantwortlich und suchen nach Antworten auf die Fragen unseres Gegenübers. Und mit der wachsenden Verantwortung für die Antworten, steigt nicht selten die eigene Anspannung, spüren wir vielleicht Anzeichen von Anstrengung. Und wenn wir die erste Idee, Hypothese, den ersten Vorschlag entwickelt und unterbreitet haben, teilt sich auch schon unsere Präsenz auf. Ein Teil unserer Präsenz folgt unserer Idee, unseren Vorschlägen, lässt sich dazu verleiten, im Zweifelsfalle die Idee, wo sie doch für uns so nachvollziehbar ist, wiederholt zu erläutern, damit sie auch unser Gegenüber versteht. Natürlich nur mit den besten Absichten, zu helfen. Aber ein Teil unserer Präsenz ist dann eben nicht mehr bei unserem Gegenüber.
Erlauben Sie mir eine kleine wegweisende Wort-Spielerei. Schon das Wort „Ver-Antwort-ung“ deutet an, um was es geht: Ver-Antwort-ung für sich und seine Fragen zu übernehmen, heißt, selbst nach Antworten zu suchen. Wenn wir möchten, dass Menschen (Eigen-) Verantwortung übernehmen, dann sollten wir sie dabei unterstützen, selbst Antworten zu suchen, aus vorangegangenen Erfahrungen abzuleiten, sie aus den eigenen Ressourcen heraus zu entwickeln. So fördern wir die eigene Selbstwirksamkeitsüberzeugung, das eigene Kompetenzerleben, die eigene Gestaltungsfähigkeit. Das ermutigt dazu, auch in Zukunft auf Herausforderungen und Fragestellungen eigene Antworten zu suchen, Ver-Antwort-ung zu übernehmen. Was ist dann aber mit uns? Für was haben wir Ver-Antwort-ung? Haben wir überhaupt Ver-Antwort-ung für irgendetwas in der Gestaltung von Lern- und Veränderungsprozessen?
Wenn wir für etwas verantwortlich sein können, dann meines Erachtens für die Fragen, die wir stellen. Wenn unser Gegenüber Ziele formuliert, sollten wir fragen, was er oder sie diesbezüglich von uns erwartet. Dadurch werfen wir ihn auf seine eigene (Lösungs-) Verantwortung zurück. Und wir arbeiten mit dieser Frage klarer heraus, was eigentlich der Auftrag für unsere Arbeit ist, wofür wir verantwortlich sind. Danach können wir Fragen stellen, die unser Gegenüber unterstützen können, bei der Suche nach Antworten auf seine Ausgangsfragen, seine Bedürfnisse und Ziele. Wir können helfen, mit unseren Fragen hilfreiche Suchprozesse in unserem Gegenüber auszulösen, z.B. indem wir mit unseren Fragen einladen, auf bereits funktionierende Lösungen, auf Ressourcen, auf bereits ähnliche erfolgreich bewältigte Situationen zu fokussieren. Wir können uns im gemeinsamen Arbeitsprozess immer wieder mit Fragen vergewissern, wo unser Gegenüber gerade steht, welche Fragen hilfreiche Suchprozesse ausgelöst haben und welche Fragen vielleicht noch fehlen. Damit haben wir schon eine große Verantwortung. Ich würde gerne das Wort Ver-Antwort-ung an dieser Stelle ersetzen durch „Ver-Frag-ung“. Wenn wir für etwas wirklich verantwortlich sind, dann eigentlich fürs Fragen stellen. Dafür brauchen wir unsere ganze Präsenz und unsere Kompetenz. Die eigene Ver-frag-ung gilt es systematisch wahrzunehmen und auszubauen. Damit helfen wir unserem Gegenüber im besten Falle doppelt. Sie/er kann eigenverantwortlich die passenden Antworten auf ihre/seine Fragen, ihre/seine Ziele entwickeln. Und er/sie kann die von ihm als besonders hilfreich empfundenen Fragen als Modell für seine selbstständigen und eigenverantwortlichen Suchprozesse übernehmen. Nicht selten, dass ein Kunde eine Skalenfrage, eine Wunderfrage, eine Verschlimmerungsfrage mit nach Hause nimmt und sich damit selbst, ohne Unterstützung von außen, seine ganz persönlichen hilfreichen Antworten sucht.
Wenn wir Ver-Antwort-ung übernehmen, werden wir aktiv, produzieren Ideen und Ratschläge. Dadurch aber kommt unser Gegenüber leicht in eine passive Rolle, in der er/sie uns arbeiten lässt. Manchmal steckt hinter unseren sicherlich gut gemeinten und sicherlich auch brillanten Lösungsideen, ohne dass wir es wollen oder meinen, eine Abwertung unseres Gegenübers. Wenn es uns gelingt, in relativ kurzer Zeit eine vermeintlich passende Antwort zu unterbreiten, vermitteln wir eben schnell auch: „Sehen Sie, so schnell finde ich eine Lösung.“ Oder in der schlimmeren Variante „Wenn Sie nur so klug nachgedacht hätten wie ich, hätten Sie auch die Antwort finden können.“ Und wenn unser Gegenüber uns zurückmeldet „So kompetent wie Sie möchte ich auch sein,“ dann schmeichelt das zwar, aber es stärkt nicht die Eigen-Ver-Antwort-ung unseres Gegenübers.
Damit wir uns aber nicht missverstehen: Natürlich sind unsere Ideen, Hypothesen und Erfahrungen auch Ressourcen für die Gestaltung von Lern- und Veränderungsprozessen. Doch wie können wir diese so nutzen, dass sie unser Gegenüber nicht aus der eigenen Verantwortung entlassen? Indem wir mit der entsprechenden Präsenz für unser Gegenüber den passenden Moment abwarten, unsere Ideen eher in Fragen und als völlig unverbindliches Angebot, das jederzeit verworfen werden sollte, ins Gespräch einführen; indem wir unser Gegenüber fragend in seiner Autonomie stärken und er/sie unsere Ideen auch nur als Anfragen und nicht als Rezepte, als VorSchläge begreift und überprüft.
Wenn wir uns unserer Ver-frag-ung stellen, dann bleiben wir mit der Präsenz bei den Suchprozessen unseres Gegenübers. Unser Gegenüber bleibt in einer aktiven Rolle, die sich nicht auf das Annehmen oder Verwerfen von Lösungsvorschlägen bezieht. Wir stärken mit unserer Ver-frag-ung die EigenVerantwortung unsres Gegenübers. Dadurch aber könnten sich auch unsere Anfragen in Supervisionen oder eigenen Weiterbildungsprozessen ändern. Was brauchen wir, um unserer Ver-frag-ung gerecht zu werden? Brauchen wir mehr Fachkompetenz, mehr Expertise? Oder arbeiten wir an unserer neugierig-fragenden Haltung und entwickeln unsere Fragekompetenz weiter?

Interesse an einer inhosue-Schulung zur (Weiter-) Entwicklung der eigenen fragenden Haltung? Dann nehmen Sie mir mir Kontakt auf: >> Kontakt