Gehe zurück auf Los, ziehe keine 4.000€ ein. Corona bleibt, Impulse zur Re-fokussierung in Krisenzeiten.

 

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Gehe zurück auf Los und ziehe keine 4.000€ ein“, so oder so ähnlich steht es auf einer der Ereigniskarten aus dem Spiel „Monopoly“ … und so beschreiben viele ihre Erfahrungen mit der Corona-Pandemie vor und nach den Sommerferien. Wieder haben wir Schulferien hinter uns und irgend­wie waren die Oster-, Pfingst- und Sommerferien besondere Wegmarken auf der Reise durch Corona-Zeiten. Ich erinnere mich noch, wie ich mit vielen gehofft hatte, dass der Spuk nach Ostern vorbei sein möge. Das wiederholte sich zu Pfingsten und dann zu den Sommerferien. Heute haben wir Gewissheit, dass uns die durch Corona ausgelösten Prozesse bleiben werden. Und dass die Corona-Pandemie den Rahmen, in dem wir leben und arbeiten, verändert hat und weiter verändern wird. In den letzten Monaten habe ich Prozesse der Re-Orientierung auf unterschied­lichen Ebenen (persönliche Prozesse und Prozesse in Organisationen und Institutionen) begleitet und bin selbst durch solche Prozesse gegangen. Und die Lern­kurve war sehr steil und ebenso anstrengend und bisweilen auch schmerzhaft.

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„(Neue) Normalität“ oder „Das endlos Offene“: Bewegliches Lernen

Heute ahnen wir, dass uns das Unberechenbare, das Risiko, die Ungewissheit und die Verunsicherung blei­ben werden. Carolin Ehmcke nennt das in ihrem Corona-Tagebuch in der Süddeutschen Zeitung das „Endlos Offene“. Und dieses endlos Offene klopft immer in Wellen an die Tür: erste Welle, zweite Welle, rauf und runter. Es ist eben nicht ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen und einfach nur Ex­pert:innenwissen organisieren, und schon ist es ge­löst. Es ist eine Krise und Krisen sind nicht wie ein Problem lösbar.  Denn gerade das, was bei Problemen hilft: der Rückgriff auf Expertise, Erfahrungen, Kom­petenzen, bewährte Standards ist jetzt das Hindernis. Und deshalb bescheren uns Krisen immer erst einmal „Erfahrungen des Scheiterns“ im Versuch, dem Neuen (der Krise) mit dem Alten (unsere Erfahrungen, Rou­tinen, Standards, Konzepte, Pläne, …) zu begegnen. Daher ist die zentrale Herausforderung in Krisen das „bewegliche Lernen“: in kleinen Schritten Erfahrun­gen sammeln und aus ihnen für die nächsten Schritte lernen. Das braucht Reflexion, Austausch, Fragen, Diskussion, alles das, was wir uns mit dem unsäg­lichen Begriff des „Social Distancing“ genommen haben. Der Virus überträgt sich nicht über das „Sozia­le“ sondern über Tröpfchen und Aerosole, die sich bei körperlicher Nähe, in geschlossenen Räumen übertra­gen können. Dafür gibt es Regeln, die das Risiko redu­zieren können. Und mit jedem Hot Spot, jedem An­steigen der Infektionen bekommen wir die Unver­nunft vieler gespiegelt. Nicht das „Soziale“ muss ver­mieden werden, sondern bestimmte Formen, wie wir das Soziale gestalten. Und diese wichtige Anfor­derung: 1,5m Abstand, Masken tragen, wenn Abstand nicht geht, Räume lüften und Lösungen finden für den Umgang mit dem Risiko durch Aerosole, gestaltet den Rahmen für das Leben und Arbeiten. Und hier können wir uns ganz bewusst entscheiden zwischen …

Gestaltet wer­den oder Gestalten:  vom Krisenmodus zum fokussierten Modus

Es lohnt sich, zurückzuschauen, wie wir selbst, aber auch die Organisationen mit der Corona-Krise in den letzten Wochen und Monaten umgegangen sind. Wir können daraus sehr viel lernen für die „Neue Normali­tät“, wo keiner weiß, ob es die jetzt schon da ist („Das end­los Offene“). Denn die alte Normalität wird so nicht wiederkom­men. Wie sind wir mit der Krise und den Herausfor­derungen umgegangen? Was war dabei hilf­reich, hat uns weitergebracht, das „Gestalten“ gestärkt? Und was hat uns eher eingeladen zum „Abtauchen“, in eine Art Lähmung, Verharrung? Was hat eingeladen, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, dieses not­wendige neue Wissen, die neue Erfahrung durch Aus­tausch, gemeinsames Scheitern und Lernen, beweg­lich mit den immer wieder neuen Herausforderungen umzugehen? Uns vom Krisenmodus hin zum fokus­sierten Modus, mit dem Blick auf den nächsten (Ent­wicklungs-) Schritt zu bewegen? Und was hat uns gerade nicht geholfen, uns (aus-) gebremst, entmu­tigt, de-fokussiert? Was hat uns wie orientiert zwi­schen „Was geht nicht mehr, was dürfen wir nicht mehr…?“ und „Was braucht es jetzt als nächstes, was ist möglich, wie können wir es möglich machen?“ Was hat eher eingeladen, den Blick nach oben zu richten mit der Erwartung „Sagt uns was wir tun sollen!“ und was hat eher angeregt, mitzudenken, sich zu beteili­gen, gemeinsam die unterschiedlichen Erfahrungen zu nutzen und daraus neue Lösungen zu entwickeln?
Diese Zeiten lehren uns viel über uns selbst und über unsere Organisationen, (Zusammen-) Arbeitsprozesse und Führungsprozesse und die dahinter liegenden Menschenbilder. Sind diese Prozesse von dem Bild geprägt, dass Menschen gestalten, sich entwickeln wollen, wichtige Erfahrungen, Kompetenzen und Potenziale in Prozesse einbringen wollen und können? … und dass Menschen sehr wohl Verantwortung übernehmen, wenn man sie lässt? Oder misstraut man den Erfahrungen und Motiven, glaubt, alles re­geln zu müssen, weil Menschen sonst verantwor­tungslos handeln und „Unsinn“ machen? In dem einen Fall entstehen eher Rahmenbedingungen, in denen Menschen gerade mit ihren Unterschieden gemein­sam gestalten und ihre Unterschiede als Potenziale nutzen, bei allem, was dabei auch konflikthaft mitei­nander ausgetragen werden muss. Oder glaubt man, den Menschen oder Mitarbeiter:innen das Denken abnehmen zu müssen, indem man sie knapp hält mit Information, bevorzugt auf Weisung und Kontrolle setzt, kleinteilige (rigide) Vorgaben gestaltet und so passives Arbeitsverhalten und Demotivation produ­ziert?  Dies betrifft auch die teilweise unsägliche Kri­senkommunikation, den Umgang mit Informationen, die mangelnde Transparenz, die fehlende Bereit­schaft, gemeinsam mit Betroffenen auch nach zweit­besten Lösungen zu suchen. So wie es teilweise be­obachtbar war im Umgang mit den Schließungen der Kitas, den Schulschließungen und dem Fernlernen (mit dem wieder unsäglichen Begriff des „Home­schooling“, der bis Corona für eine Bewegung in Ame­rika stand, die bewusst ihre Kinder dem staatlichen Schulwesen entzieht und häufig auf der Vorstellung evangelikaler, rechter Vorstellungen selbst beschult.)
Diese Fragen haben nicht nur eine Bedeutung für den Umgang mit den coronas­pezifischen Themen (Hy­gienekonzep­te) sondern sie werden meines Erach­tens mitent­scheiden, wie wir und die Organisatio­nen, in denen wir arbeiten, die sich im Moment ab­zeichnenden grundlegenden notwendigen Verände­rungsprozesse bewältigen. Wie Sie durch die Krise kommen oder ob sie darin stecken bleiben, im schlimmsten Falle zu Grunde gehen.

Die Krise und ihre Herausforderungen sind nicht kompliziert sondern  komplex!

Viele der Krisenmanager:innen im Kleinen wie im Großen handelten so, als würde es sich bei der Corona-Krise um ein kompliziertes Problem handeln, statt zu erkennen, dass es nicht um ein Problem, son­dern um eine Krise mit hoher Komplexität handelt. Kompliziert (ein kompliziertes Problem) ist etwas, das wir nicht lösen können, weil uns Wissen fehlt, weil wir nicht die Expertise haben. Wir behandeln die Corona-Krise wie ein „Problem“ und suchen nach dem nöti­gen Wissen. So suchten wir das Heil lange aus­schließlich im Wissen der Epidemiologen, dem Ruf nach der Wis­sen-schaft. Unabhän­gig davon, dass die auch nicht alles wusste, sondern auch neu er­kunden musste, sind die Herausforderun­gen, die mit der Krise einher gingen und gehen nicht kompliziert sondern vor allem komplex. Komplexität ist gekennzeichnet von Überraschungen, von einer unvorhersehbaren Dynamik. Das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren ist nicht wirklich voraussag­bar, sondern dynamisch, bisweilen chaotisch. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich ganz andere Umgangsweisen mit den entsprechenden Herausfor­derungen. Kompliziertes („Verstehen“ organisieren, Bedienungsanleitungen und Standards entwickeln) wird gemanagt durch Regeln, Standards, Anordnun­gen, formale Strukturen, Routinen, hierarchische Fremdsteuerung. Top-Down-Kontrolle, Oben-Unten, Informationsmacht, etc.
Komplexität verlangt einen ganz anderen Fokus: es braucht Grund-Orientierungen und Prinzipien (z.B. Hygieneprinzipien statt eine Hygienevorschrift, die dann kontextunabhängig überall gleich umgesetzt werden muss). Austausch, Kommunikation und Dia­log helfen, unterschiedliche Erfahrungen und Kompe­tenzen nutzbar zu machen für die Entwicklung neuer Ideen. So können unterschiedliche Erfahrungen in­nerhalb der Organisation, aber auch außerhalb der Organisation vernetzt werden. So war beobachtbar, dass dort, wo die Krise besser bewältigt wurde, bzw. wird, temporäre interdisziplinäre, organisationsüber­greifende, sozialraumorientierte Teams entstanden. Hier bekam Führung eine ganz andere Rolle: sie ge­staltete genau dafür einen förderlichen Rahmen. In­formation und Verantwortung wurde geteilt, den Mitarbeiter:innen nicht vorgegeben, was sie jetzt zu tun haben (Geht ins Homeoffice, räumt Büros auf, kümmert Euch um liegengebliebene Aufgaben z.B. schreibt Konzepte). Vielmehr wurden Prozesse dezentrali­siert, um möglichst passgenau zum je­weiligen Kontext Ideen zum Umgang mit den Herausforde­rungen zu entwi­ckeln. Es wurden kleinschrittiger Ziele gesetzt: was braucht es als nächstes. Im­mer wieder wurden gemeinsam Entwick­lungen und Auswir­kungen des eigenen Handelns beobachtet und reflek­tiert, um daraus zu lernen und das Gelernte gleich wieder in den nächsten Prozessschritten zu berück­sichtigen. Ziele wurden als Orientierung genutzt, um dann im Wirken der dynamischen Kräfte nicht das (eine) Richtige zu tun (und damit zu scheitern) son­dern die Richtung im Blick mit den dynamischen sich ständig verändernden Kräften auseinanderzusetzen und sich beweglich anzupassen. So wie es beim Se­geln in stürmischen Zeiten nicht hilft, in Fixierung des Ziels die Winde und Wellen zu ignorieren. (in Orientie­rung an dem Konzept „Polynesisches Segeln“ von Gunther Schmidt)

In widerstreitenden Zielkonflikten  gibt es keine unschuldigen Lösungen

Krisen bringen unauflösbare widerstreitende Zielkon­flikte mit sich, so wie wir es jeden Tag erlebt haben. Zwischen „die Wirtschaft aufrechterhalten“ und „das Infektionsrisiko durch Beschränkungen einschrän­ken“, zwischen „Datenschutz“ und „über nicht daten­schutzkonforme Kanäle Kinder und Jugendliche errei­chen“, zwischen „Entwicklungs- und Bildungszielen“ einerseits und „Hygienebedingungen“ andererseits. Und hier gibt es keine unschuldigen Lösungen. Der Versuch, sich jeweils über seine Funktion auf eine Seite der Ambivalenz zurückzuziehen ist dabei keine Lösung, sondern ein Sich-Drücken vor der Verantwor­tung. So habe ich es immer wieder erlebt, dass sich Funktionsträger:innen in Organisationen entspre­chend ihrer Abteilungszugehörigkeit einfach auf eine Seite geschlagen haben. So pochte die IT-Abteilung auf den Datenschutz und die Sozialarbeiter:in auf die Notwendigkeit,  über nicht da­tenschutzkonforme Kanäle Zugang zu Kindern zu finden, um im Sinne von Entwicklungs­bedürfnissen der Kinder und des Kindeswohls aktiv zu werden. Doch die Verantwortung für Kinder kann nicht geteilt wer­den. Eine Organisation, wie z.B. eine Schule oder eine Jugend­hilfeeinrichtung ist als Ganzes verantwortlich und muss als Ganzes Lösungen suchen. Die Idee, man könne sich wider­spruchsfrei und unschuldig auf eine Seite schlagen, ist eine verständliche, aber eine, die sich noch ungünstiger auswirkt. Und dabei mehr Schaden anrichtet, als wenn gemeinsam, mit dem Fokus auf die Men­schen, um die es geht, z.B. Kinder, um Lösungen ge­rungen wird; versucht wird den Weg (die Lösung) mit den am wenigsten negativen Auswirkungen in beiden Zielbereichen zu finden. Dafür aber braucht es eine Bereitschaft, diese Ambivalenz anzuerkennen und gemeinsam dafür Verantwortung zu übernehmen. Ich hätte mir in der ein oder anderen Organisation ge­wünscht, dass Datenschutzbeauftragte nicht sagen „das geht aus Datenschutzgründen nicht“ und in de­nen stattdessen ambivalenzfreudige Führungskräfte immer wieder einen Rahmen gestalten, in denen bei­de Seiten gemeinsam an Lösungen arbeiten.

Navigieren auf Sicht, „quick & dirty“, iteratives Prinzip

Die Corona-Krise hat uns gefordert und fordert uns noch in der Art und Weise, wie wir uns Ziele setzen, fokussieren und Schritte gehen. Waren wir vor der Krise gewohnt, ausführlich und gründlich Ziele zu klären, ausführliche Konzepte zu schreiben und lange Planungsprozesse zu durchlaufen, scheiterten die als erstes, die genau daran festhielten. Ich kann mich erinnern, wie ich vor Ostern anfing, mit genau dieser Haltung meine Arbeitsprozesse in den Online-Raum zu übertragen (Online-Fortbildungen, Online-Supervisionen und -Beratungen). Ich scheiterte kläg­lich und kam nicht wirklich voran. Und in den Aus­handlungsprozessen mit meinen Kund:innen vor einer Absage doch zu prüfen, wie wir gemeinsam neue Wege gehen, beobachtete ich dies auch manchmal dort. Gefordert war etwas anderes: sich schnell wie­der zu orientieren und ins Han­deln zu kommen. Geholfen hat mir das Bild vom Nebel: Ich weiß zwar, wo ich hin will, aber ich sehe wegen des dichten Nebels nur die nächsten fünfzig, hun­dert Meter. Also waren zwei Dinge wichtig: die Richtung klar zu haben und dann umzuschal­ten auf die nächsten Meter: Navigieren auf Sicht, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Da­bei half mir besonders ein Satz aus einem kollegialen Aus­tausch: mach es „quick & dirty“. Ich gab mir die Er­laubnis, meine Ansprüche in Anerkennung der nicht veränderbaren Krisenbedingungen herunterzu­schrauben. Ich lernte, dass es wichtiger ist, loszulegen als eine perfekte Vorstellung, einen umfassenden Plan zu entwickeln. So entstanden schnell neue Unterstüt­zungsangebote für meine Kund:innen. Ich konnte online schon nach Ostern herum einen landesweiten Online-Austausch (Ba-Wü) mit Fachkräften der Schulsozialar­beit mit 180 Teilnehmer:innen durchfüh­ren, obwohl ich zwei Wochen zuvor weder ein Headset besaß, noch Ahnung hatte von Videokon­ferenzen und den entsprechenden Tools. Es folgten zahlreiche Corona-Praxiswerkstätten, in denen ich einen Rahmen für die beschriebenen Re-Fokussierungsprozesse gestaltete. Dabei half mir, im Sinne eines iterativen Prinzips, mich in kleinschrit­tigen Lernschleifen immer wieder an die jeweils ge­sammelten Erfahrungen anzupassen. Die Richtung im Blick, wechselten sich kleinschrittig (auf kurze Zeit­räume bezogen, in der Regel auf eine Woche) Planen, Handeln, Auswerten ab. Ich beobach­tete, dass viele, die schnell wieder in eine gestaltende Rolle kamen, im Grunde auch diese drei Prinzipien bewusst oder un­bewusst berücksichtigten: Navigieren auf Sicht, „quick & dirty“, iteratives Lernprinzip.

Die Krise als Brennglas, Katalysator für Themen die vorher schon da waren

Für mich, aber auch für meine Kund:innen war und ist die Krise wie ein Brennglas für Themen, die es schon vor der Krise gab. Die bereits hier angesprochenen Aspekte verweisen darauf: wie zieldienlich und hilf­reich haben wir Prozesse der Zusammenarbeit, Füh­rungsprozesse, den Umgang mit komplexen Themen, die Fokussierung auf die Bedürfnisse unserer Ziel­gruppen und die Kund:innen gestaltet? Mit dem Ver­weis auf die Krise war plötzlich vieles möglich, im ungünstigen, aber auch günstigen Sinne. Da wurden Rituale und Standards außer Kraft gesetzt, plötzlich Vernetzungsprozesse ermöglicht, in hohem Tempo Prozesse auf Online umgestellt, wie es vorher nie­mand für möglich gehalten hätte. Ich gestehe, dass ich das Thema, meine Arbeit mehr zu digitalisieren und online zu gestalten, schon seit Jahren auf meiner ToDo-Liste stehen hatte. Und niemals hätte ich mir träumen lassen, was in einem halben Jahr möglich ist. Ich habe viel klarer unnötige und überholungsbedürf­tige Routinen gestrichen, mich ganz anders und neu organisiert. Gleiches habe ich in der ein oder anderen Organisation beobachtet und auch beruflich begleiten dürfen. Daher glaube ich, dass wir im Moment in ei­nem günstigen Zeitfenster sind, um aus der Krise nicht nur für die Krise zu lernen. Hierin liegt, auch wenn die Krise uns stellenweise viel gekostet hat, eine Chance. Denn mit zunehmender (neuer) Normalität, ist die Verlockung groß, wieder – ohne dies kritisch zu prüfen -, in die alten Muster und Routinen zurückzu­fallen oder bereits jetzt schon davon zu träumen. Was von dem, was im zieldienlichen Sinne plötzlich mög­lich war, lohnt sich beizubehalten? Welche der Rou­tinen, die wir coronabedingt gestrichen haben, kön­nen wir auch zukünftig sein lassen? Welche neuen Erfahrungen und Schritte waren hilfreich und lohnen es, in neue zukünftige Routinen überführt zu werden?  Was von den neuen Erfahrungen, den gewonnen Er­kenntnissen lohnt es, mit hinüber zu nehmen in die neue Normalität? Welche Themen haben sich als wirklich zentrale Entwicklungsthemen erwiesen und welche Themen glaubten wir, wären zentral wichtig, haben sich aber als unbedeutend herausgestellt? So wäre es vielleicht sinnvoll, die bisherige Coronazeit unter diesen Gesichtspunkten zu reflektieren. Und wenn ich noch einen Schritt weiter gehen darf, dann wäre es vielleicht sogar sinnvoll unser Reflektieren im Sinne des beschriebenen „iterativen Prinzips“ zu ver­ändern: also kleinschrittiger, regelmäßiger, systema­tischer bzw. fokussierter zu gestalten.

Demut und Dankbarkeit, für das was plötzlich möglich war

Und diese Corona-Krise, die ich manchmal verflucht habe, die mich stellenweise ärgerlicher, polarisierter gemacht hat, hat mich auch Demut und Dankbarkeit aufs Neue gelernt. Ich habe viele ärgerliche Prozesse beobachtet und selbst erlebt, in denen Menschen Gestaltung behindert haben, die neue Formulare entwickelt haben (z.B. „Unabkömmlichkeitsbeschei­nigungen“), denen Betretungsverbote wichtiger wa­ren, als die Suche nach Möglichkeiten, anders zu­sammen zu arbeiten, in denen leider das, was nicht geht, nicht erlaubt ist, nicht sein darf, im Vordergrund stand, statt nach dem zu suchen, was unter diesen nicht veränderba­ren Bedingungen möglich ist. Und ich hatte das Glück, auch auf Menschen zu sto­ßen, die wider die Kultur in ihrer eigenen Organi­sation, den Spiel­raum ausgelotet und geweitet haben, die ermöglicht haben, was vorher unmöglich schien. Die dabei auch Risiken eingegangen sind. Und ich habe aufs Neue Demut gelernt, das hinzunehmen, was nicht verän­derlich ist. Aber nicht mit Resignation sondern eben mit De-Mut.

In diesem Sinne: bleiben Sie gesund und zuversichtlich.

Ihr Uwe Straß

 

Motivieren oder Vertrauen?

Fragend schaue ich in die Runde. Die eine oder der andere sitzt erwartungsvoll da. Dazwischen Teilnehmer/innen, die etwas gelangweilt drein schauen, andere wiederum machen schon jetzt, zu Beginn des Trainings, einen genervten Eindruck. Die Vorstellungsrunde bringt es ans Tageslicht. Mehr oder weniger direkt äußern einige ihren Unmut und ihre Erwartungslosigkeit. Andere freuen sich und wollen, dass ich loslege. Mit dem Blick auf die scheinbar unmotivierten Teilnehmer/innen rattert es in meinem Hinterkopf. Während ich versuche, erste aktivierende Schritte einzuleiten, wühlt der Motivationstrainer in mir in seinem Methodenkoffer und fragt sich: Womit kriege ich die bloß motiviert? Als ich am Abend einem Freund erzähle, wie schwierig der Einstieg war, und wie schwer es ist, Herrn Müller und Frau Maier zur Mitarbeit zu motivieren, erzählt er mir aus seinem Führungsalltag ähnliche Geschichten. Von Mitarbeiter/innen, bei denen er mit seinem Latein am Ende ist, von der Idee, sich mal bei einem Motivationstrainer das richtige Handwerkszeug zusammenstellen zu lassen. Wie motiviert man andere? Welches Handwerkszeug gibt es? Buchregale voll mit Ratgeberliteratur und Heerschaaren von Motivationstrainer/innen scheinen doch zu belegen, dass das irgend-wie gehen müsste… Doch geht es das überhaupt? … andere Menschen motivieren? Welche Idee steckt hinter dem Anliegen, „andere zu motivieren?“

Wenn wir über Motivierung nachdenken, geht es häufig eigentlich um die Frage, wie man jemanden zu etwas Bestimmten bewegt, wie man ihn oder sie dazu bringt, aus einem inneren Antrieb heraus sich zu beteiligen, einer Aufgabe nachzugehen, „mehr zu bringen“, Verantwortung zu übernehmen. Damit aber sind schon bestimmte Implikationen verknüpft. Hinter der Idee der Motivierung steht die Unterstellung, da könnte „mehr gehen“, wie wenn jemand grundsätzlich über 100 % Motivation verfügt, in einer bestimmten Situation (bewusst oder unbewusst) aber nur 70 % bringt, zeigt oder aktiviert. „Der könnte mehr, wenn er nur wollte“. Damit aber steht am Anfang der Idee, andere zu motivieren, ein Misstrauen, die Unterstellung einer Vorenthaltung, die Verweigerung von Motivation. Der Versuch, andere zu motivieren, ist dann der Versuch den anderen mit geeigneten Werkzeugen, doch noch dazu zu bewegen die „fehlende Restmotivation“ aufzubringen, sie ihm zu entlocken. Ob wir es wollen oder nicht, dieses Konzept hat weit¬reichende Auswirkungen. Es konstruiert eine ganz spezifische Beziehungsgestaltung: von Demotivierten und Motivator/innen. Die einen müssen noch „bearbeitet“ werden (freundlicher formuliert: motiviert, aktiviert, …) und die anderen brauchen die entsprechenden wirkungsvollen („Manipulations-„) Werkzeuge. Bei den einen muss das entdeckte Defizit bearbeitet wer-den und die anderen übernehmen die Verantwortung für die entsprechende „Behandlung“. Wie aber wirkt sich das aus?
Machen wir ein kleines Gedankenexperiment: Ihr/e Vorgesetzte/r hat für sich festgestellt, dass Sie nicht ausreichend motiviert einer bestimmten Aufgabe nachgehen. Gestärkt, vielleicht durch ein Führungskräftecoaching oder entsprechende Ratgeberliteratur kommt er auf Sie zu und spricht Sie an, mit dem Ziel, Sie zu motivieren. Wie würden Sie sich fühlen? … wie reagieren? Bei mir würde die Frage keimen: „Was will die eigentlich von mir?“ Und wenn ich merken würde, sie will auf etwas Bestimmtes hinaus, sie will mich motivieren, würde in mir mein Autonomiebedürfnis wach werden. Ich würde auf Distanz gehen, vielleicht kühl und sachlich reagieren und mich innerlich abgrenzen. Wenn die Aufgabe der Motivierung auch noch an externe Dienstleister delegiert wäre (Motivations¬training, Teamentwicklung als Motivierungsversuch, „Machen Sie mal das…“; keine seltenen Aufträge) würde bei mir nicht die Motivation steigen, sondern die De-Motivation.
Motivierungsversuche konstruieren eine Beziehung, in der der eine vorgibt, einschätzen zu können, dass der andere noch nicht ausreichend sein Motivationspotenzial zur Verfügung stellt, sozusagen Motivationspotenzial vorenthält. Es konstruiert ein oben und unten, es lädt dazu ein, zu überlegen, wie man den anderen doch noch motivieren, „manipulieren“ könnte, dass er das vorenthaltene Motivationspotenzial doch noch her gibt. Damit aber könnte die entsprechende Beziehungsgestaltung genau das Gegenteil von dem bewirken, was man erreichen wollte. Sprenger bringt es in seinem Buch „Mythos Motivation“ auf den Punkt:

„Die Motivierung selbst ist also die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält“
(Reinhard K. Sprenger in „Mythos Motivation“,
S. 162, 19.Aufl. 2010).

Was aber war dann zuerst? Die Vorenthaltung der Motivation oder die De-Motivation als Auswirkung eines Motivierungsversuches? Das aber würde das Modell der Motivierung auf den Kopf stellen. Gäbe es dann überhaupt Teilnehmer/innen, Mitarbeiter/innen, Schüler/innen, die demotiviert sind und motiviert werden müssen? … die sich verweigern, Widerstand zeigen, schwierig sind? Wäre es dann nicht umgekehrt?
Wäre dann Motivation nicht die Grundeigenschaft, die erst einmal da ist und gezeigt wird? Denken Sie an kleine Kinder, die unter größten Mühen und Frustrationen laufen lernen. Selbst wenn man sie bremst, sie warnt, vorsichtig zu sein: Immer wieder fallen sie hin und stehen wieder auf, so lange, bis sie laufen können. In diesem Sinne muss Motivation nicht erzeugt werden. Sie ist einfach da. Erst im Laufe des Lebens, beim Marsch durch die unterschiedlichen Erziehungsinstitutionen und diversen Arbeitsplätze, in der Konfrontation mit Führungskräften und Motivierungsprogrammen scheint die Motivation mitunter kleiner zu werden. Sie wird durch Erfahrungen gebremst, in denen bestimmte Interventionen, Situationen, Gesprächsangebote und Verhaltensweisen als demotivierend erlebt werden.
So betrachtet steht Demotivation möglicherweise für einen kompetenten Umgang mit bestimmten Kontexten und Rahmenbedingungen, eine Kompetenz im Umgang mit Misstrauen, Abwertung und Manipulationsversuchen. Demotivation wird so zu einem Versuch, mit Beziehungsangeboten umzugehen, die als ungleich erlebt werden, in denen die eigenen Bedürfnisse und Ziele in Frage stehen, verleugnet oder missachtet werden.
In einem Training für eine Behörde in Norddeutschland sollte ich der mittleren Führungsebene Grundlagen einer wertschätzenden Kommunikation und den Aufbau einer Feedbackkultur vermitteln. Ich sollte sie motivieren, die Inhalte entsprechend umzusetzen und anzuwenden. Mit Elan und voller Motivation eröffnete ich das Training. Dabei traf ich auf eine Situation, die man wohl in jedem Lehrbuch über Motivierung ausführlich hätte darstellen können. Keine freundlichen Begrüßungen, eine wortkarge Vorstellungsrunde, offen gezeigte Ablehnung des Fort-bildungsangebotes, permanente Seitengespräche, alles Anzeichen von demotivierten Teilnehmer/innen. Plötzlich meldete sich eine Teilnehmer/in, die ich bereits als die „motivierteste“ identifiziert hatte und entschuldigte sich für das Verhalten der Kolleg/innen. Sie hätten seit Wochen eine Diskussion im Hause über Kosteneinsparungen, diverse Vergünstigungen seien bereits gestrichen worden und am Morgen wären alle davon überrascht worden, dass die Zufahrt zum Parkplatz mit einer Schranke versehen wurde und man nicht mehr kostenfrei parken könne. Ein pfiffiger Teilnehmer ergänzte den Beitrag durch die Berechnung, was die Schranke gekostet hatte und rechnete die Einnahmen durch die Parkgebühren dagegen. Hatte ich es hier mit Teilnehmer/innen zu tun, die Motivation vorenthalten oder die kompetent auf eine Form der Beziehungsgestaltung reagiert haben, die sie als abwertend empfunden haben? Die Teilnehmer/innen erlebten die Veranstaltungsziele und Inhalte als massiven Widerspruch zu dem, was sie in ihrem Arbeitsalltag erlebten. Aus dieser Perspektive muss eine Fortbildung, die ihnen wertschätzende Kommunikation vermitteln soll, geradezu zynisch erscheinen. Demotivation ist dann ein kompetenter Versuch, mit solch einem Erleben umzugehen. Ich könnte zahlreiche Beispiele aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen ergänzen. Aus der Kinder- und Jugendhilfe, wo Jugendliche an (eigentlich sich selbst abwertenden) Zielen arbeiten sollen wie „Sozialkompetenzen verbessern“ und trotzig im entsprechenden Training dagegen halten. Von einer Mathelehrerin, die in der 8. Stunde Schwierigkeiten hat, ihre Schüler/innen zu Mathe zu motivieren, nachdem diese bereits einen ganzen Tag gesessen haben. Eltern, die nur zu Gesprächen eingeladen werden, wenn etwas schief gelaufen ist und nie einen Brief aus der Schule erhalten, wie toll sich ihr Kind entwickelt hat. Von Mitarbeiter/innen, die den zwanzigsten Change-Management-Prozess hinter sich haben und nie beteiligt wurden, von einem Team in einem Altenpflegeheim, dass chronisch unterbesetzt ist und sich permanent in der Freizeit mit Anrufen der Stationsleitung konfrontiert sieht, doch noch einzuspringen, einen Dienst zu übernehmen. Ganz zu schweigen von den alljährlichen Mitarbeitergesprächen, in denen nicht selten die Form, das ausgefüllte Qualitätsmanagement-For-mular wichtiger ist als der Gesprächsprozess. … Alles Menschen, die demotiviert sind und motiviert werden müssen? Oder alles Beispiele, in denen sich Menschen in Kontexten bewegen, auf die man eigentlich nur demotiviert reagieren kann? Demotivation als kompetenter Versuch der Lösung?
Wäre es dann nicht besser, sich von der Idee, andere zu motivieren zu verabschieden und stattdessen zu einer Haltung des Vertrauens zu kommen? Wir würden dann erst einmal unterstellen, dass Motivation immer da ist, dass sie eine Grundeigenschaft ist, die im Menschen innewohnt, die gekoppelt ist an Bedürfnisse, Ziele, Anliegen, Interessen, Vorlieben, etc. Wir würden wertschätzend, respektvoll und neugierig mit einer fragenden Haltung in („Arbeits“-) Beziehungen Ziele, Interessen, Bedürfnisse klären und aushandeln. Wir würden gemeinsam versuchen, Kontext- und Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass es möglich ist, diesen Zielen und Aufgaben zu folgen, die jeweils zu eigenen Bedürfnissen, Zielen und Anliegen passen oder uns nicht zwingen, unsere eigenen Bedürfnisse und Ziele zu leugnen oder ihnen zuwider zu handeln. In klaren und transparenten Beziehungsgestaltungen würden Freiräume, Gestaltungsspielräume und Grenzen ausgelotet und klar miteinander verhandelt werden. Menschen würden an entsprechenden Prozessen beteiligt und nicht ausschließlich mit Ergebnissen konfrontiert werden. Und da, wo Bedürfnisse und Ziele nicht zueinander passen, würden wir dies nicht zudecken und übertünchen, sondern uns fair und die Unterschiedlichkeit wertschätzend auch gegebenenfalls trennen. Das alles verlangt sehr viel Präsenz, Selbstverantwortung, Mut zu einer aufrichtigen und wahrhaftigen Kommunikation und Beziehungsgestaltung. Und es verlangt, uns zu verabschieden von der gegenseitigen Bewertung und Abwertung. Es verlangt, eine Kommunikationskultur zu entwickeln, in der Unterschiedlichkeit ausgetragen wird, in der man sich auf die Unterschiedlichkeit einlässt, in der sich beide Seiten Rückmeldung geben, in der Menschen beteiligt werden. In der wir mehr über Ziele, Anliegen und Bedürfnisse sprechen und weniger darüber, was wir über den anderen denken, wie wir ihn bewerten, wie wir Verhaltensweisen interpretieren oder analysieren. In der wir uns aufmachen und die spezifischen Stärken und Kompetenzen der Mitarbeiter/innen, der Teilnehmer/innen, der Schüler/innen sichtbar machen, in Prozessen berücksichtigen. Und in der wir Verhaltensweisen, die wir als schwierig, widerständig, demotiviert erleben, umdeuten als Ausdruck von Kompetenz, als Lösungsversuch, als eine wichtige Informationsquelle für die Weiterentwicklung der Kooperation und Zusammenarbeit. Vertrauen statt motivieren! Kompetenz statt Defizit! Gemeinsam lernen und sich entwickeln statt Manipulationstechniken und Motivationsseminare.