„Mütend zerschöpft“ oder: „Wider die Corona-Begrenzung disruptiv Lernprozesse entgrenzen“

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Ich gestehe es, ich bin auch „mütend“ (ZEIT, 31.03.2021) und „zerschöpft“(Sascha Lobo, Spiegel online 28.04.2021) von der anhaltenden Corona-Pandemie. Wenn sich nicht zwischendrin in mir eine disruptive Seite melden würde und voller Energie die Zerschöpfung links liegen ließe. Da hat uns die Lehrmeister:in Corona ganz schön zum Lernen gezwungen. Mit Corona als höhere Macht wurde unsere „alte Normalität“ außer Kraft gesetzt und das was wir kannten aufgelöst und in Frage gestellt. Beratung, Supervision, Training? … bei hohen Inzi-denzen? … nur online? … dann doch lieber ausfallen lassen? Oder treffen wir uns dann doch in Videokonferenzen, um uns gesichtslos den PowerPoint-Schlachten zu ergeben? Und ohnmächtig der dahin-bröckelnden Internetverbindung ins Nichts zu folgen und dabei vom Mythos der Unmittelbarkeit und Tiefe der alten schönen Präsenzprozesse zu träumen? „On-line-Prozesse werden nie die Qualität und die Tiefe der Prozesse in einem Beratungszimmer oder einem Fortbildungsraum erreichen“ (so eine Trainerkollegin). Mit solchen gut gepflegten Glaubenssätzen entlassen wir uns aus der Verantwortung. Corona hat so betrachtet eine große disruptive (auflösende) Kraft, wenn wir beherzt über die Klippen der ersten Erfahrungen des Scheiterns hinwegspringen und uns einladen lassen zu einer Selbstdisruption, die neue Lernprozesse ermöglicht. Und dann geht es nicht um die Frage, wie wir die alten Präsenzprozesse 1:1 in den Online-Raum übersetzen. Sondern um das Weiterentwickeln und das Entgrenzen im positiven Sinne, da wo schon vor Corona unser „altes Denken“ Prozesse begrenzt hat.

Zur Fort-bildung muss man fort-gehen und für Beratung muss man zu vereinbarten Terminen in der Zukunft Berater:innen aufsuchen. Und Teamsitzungen gehen nur am gleichen Ort mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Warum Präsenzprozesse auch eine stark begrenzende Seite haben…

Egal, ob wir uns fortbilden, beraten werden oder uns in einer Teamsitzung treffen: es geht im Kern immer um Kommunikation. Und diese fand in der alten Normalität für die Beteiligten immer zur gleichen Zeit am gleichen Ort statt. Das heißt auch: Wenn ich eine Fortbildung in drei Monaten gebucht habe, muss ich nicht nur zu dem Termin körperlich anwesend sein. Ich sollte auch das gleiche Interesse und die gleiche Motivation wie zum Zeitpunkt der Anmeldung haben und ich sollte fit sein. Denn es gibt nur eine Chance, die Inhalte aufzunehmen und zu verarbeiten, nämlich zum vereinbarten Zeitraum. Gleichzeitig entstehen durch diese Begrenzungen (gleicher Ort und gleiche Zeit) Formate, die Prozesse in ihrer Form begrenzen. Kennenlernen, Erwartungen austauschen, Ziele klären, sich mit den Themen beschäftigen, Lösungen erarbeiten, … findet dann nur im vereinbarten Zeitrahmen statt.

Die Unterscheidung von synchroner und asynchroner Kommunikation kann ein wichtiger Schlüssel sein zur „Entgrenzung“ von Prozessen.

Ein paar Beispiele: Seit Corona nutze ich für viele Fortbildungsprozesse einen virtuellen Notizblock, ein Etherpad (https://yopad.eu/), um mit den Teilnehmer:innen schon im Vorfeld Ziele, Fragen, Themen, Erfahrungen und Erwartungen zu sammeln. Menschen können so unabhängig von Zeit und Ort ihre Beiträge notieren, auf andere Beiträge reagieren, sich zu Zeitpunkten mit Inhalten auseinandersetzen, zu denen sie es bisher noch nicht getan haben. „Es war eine eigenartige Erfahrung, mich schon weit vor der eigentlichen Veranstaltung (gemeint ist hier eine Videokonferenz) mit den Inhalten und Themen zu beschäftigen. „Es war, wie wenn ich schon vor der Fortbildung erste Lernimpulse nutzen konnte“ so eine Rückmeldung. Natürlich kann ich auch eine Mail oder einen Brief schreiben (auch eine Form asynchroner Kommunikation), aber durch das Tool Etherpad entsteht etwas, das sonst nicht möglich wäre: alle lesen wechselseitige die Beiträge, beziehen sich schon im Vorfeld aufeinander. Immer wieder habe ich erlebt, dass sie sich schon über ihre Beiträge erste Antworten auf ihre Fragen gaben.
Oder ein Team nutzt im Alltag eine virtuelle Pinnwand (Miro, Mural, Conceptboard, Flinga, … ), auf der unabhängig von Zeit und Ort miteinander Ideen, Erfahrungen, Fragen u.a. geteilt, ausgetauscht und bearbeitet werden können. So ging es in einem Prozess um die Frage, wie man als Kita-Team an der Weiterentwicklung der Elternarbeit in Corona-Zeiten arbeiten könnte, wenn durch Corona-Regelungen Teamsitzungen reduziert bzw. erschwert sind. Das Team sammelte zu diesem Thema asynchron zunächst Leitfragen und dann Ideen dazu auf einer virtuellen Pinnwand, in einem dafür eingerichteten Bereich. D.h., jede konnte zu dem Zeitpunkt, wo dafür Luft war oder man gerade eine Idee hatte, diese Idee auf der Pinnwand notieren. Dabei war es auch möglich, bereits vorhandene Ideen auf der Wand zu ergänzen, zu kommentieren und zu priorisieren. Und das alles ohne Teamsitzung. Die Teamsitzung selbst wurde dann für einen systematischen Abschluss genutzt.
In einer Online-Fortbildung zum Thema „Merk-würdig beraten und Trainieren“ bekamen die Teilnehmer:innen im Vorfeld ein Päckchen mit vielfältigem kreativen Material zugeschickt. Über ein Padlet (auch eine Form virtueller Pinnwand, jetzt aber als Lernplattform genutzt) konnten die Teilnehmer:innen schon vor der Fortbildung Inhalte bearbeiten, sich vorstellen und vorbereiten. So konnten die Teilnehmer:innen schon zeitnah zur Anmeldung, entsprechend einer an ihren Alltag angepassten Zeitplanung Impulse aufgreifen und nutzen. In der dann folgenden Videokonferenz stiegen wir schon wesentlich schneller und tiefer ein, als das in einer Präsenzfortbildung möglich gewesen wäre.
Inzwischen gliedere ich immer öfter die Vermittlung von Inhalten aus dem eigentlichen Gruppenprozess (Videokonferenz, Präsenzveranstaltung) aus, damit wird die wertvolle Präsenzzeit für den Austausch, die Fallarbeit u.a. nutzen können. Dabei bekomme ich immer wieder die Rückmeldung, dass die Teilnehmer:innen gerade durch den asynchronen Prozess sich die Inhalte besser aneignen können. Sie bestimmen selbst, was sie sich, in welchen Tempo und wie oft anschauen und bearbeiten. Begrüßt wurde die Möglichkeit, sich auch im Alltag, wenn die entsprechenden Themen „aufpoppten“, nochmal passend dazu Inhalte abrufen zu können.
Auch Beratungsprozesse können, mit Tools die asynchrone Kommunikation bzw. selbstgesteuerte Information ermöglichen, entgrenzt und bereichert werden. Häufig geht es in Beratungen auch darum durch inhaltliche Impulse Lern- und Veränderungsprozesse anzustoßen oder zu vertiefen. Beratungsprozesse können dann entlastet werden, wenn man im Vorfeld oder zur Nachbereitung Inhalte didaktisch gut aufbereitet in einer Selbstlern-Plattform anbietet. Zum Beispiel durch thematische Padlets (Pinnwände mit Informationsimpulsen, Reflexions- und Leitfragen sowie Links zu entsprechenden Ressourcen im Internet, https://de.padlet.com/). So habe ich viele Jahre vor Corona Menschen bei beruflichen Neuorientierungen unterstützt. Fragen rund um Bewerbungsstrategien, Erstellung von Bewerbungsunterlagen hatte ich dann ausgegliedert in eine Selbstlernplattform.

„Just in time“ oder erst in Wochen und Monaten, wenn die Fort-Bildung ist?

Wann erhalte ich als Teilnehmer:in Zugriff auf die Inhalte? Wenn sie im Fortbildungskalender stehen oder dann, wenn ich sie brauche? Ich habe eine Online-Fortbildung zur Ziel- und Auftragsklärung für Schulsozialarbeiter:innen entwickelt, bei der man schon mit der Anmeldung inhaltlich starten kann. Die Gruppenaustauschphase findet dann zu einem festgelegten Termin synchron statt. Die Rückmeldung ist häufig: „Es war total hilfreich, schon mit der Anmeldung Zugriff auf die Inhalte zu erhalten. Denn gerade, weil mich das Thema beschäftigt hat, habe ich mich ja angemeldet. Ich musste so nicht Monate warten bis zu dem Termin.“ Ein anderes Beispiel: immer wieder mal biete ich für die gleiche Zielgruppe eine Sommerwerkstatt an zum Innehalten, Auswerten und sich neu Fokussieren. Coronabedingt war dies 2020 nicht mehr möglich. Es entstand eine Online-Fortbildung, die sich über einen ganz neuen Zeitraum erstreckte: über ca. drei Monate. Ich stellte immer wieder zu unterschiedlichen Zeitpunkten neue Inhalte und Übungen zur Verfügung. Dies erlebten viele nicht nur als Reminder (Erinnerung) sondern als einen Rahmen, in dem sie immer wieder eingeladen wurden, dranzubleiben. Dadurch löste ich mich von den klassischen begrenzten Veranstaltungs- und Zeitformaten, wie z.B. einer zweitägigen Fortbildung mit einer Netto-Arbeitszeit von ca. 10 Stunden. Es lohnt sich, einmal auszurechnen, wie viel, bzw. wie wenig Zeit wir Netto in Fortbildungen an Themen und Inhalten arbeiten. Da drängt sich geradezu die Frage auf, ob es nicht sinnvoll ist die Grundstruktur grundsätzlich zu überlegen, Inhalte in asynchrone Kommunikations- und Lernformen auszugliedern und die wertvolle Präsenzzeit nur noch für den Austausch, die Fallarbeit, die Entwicklung von Lösungen etc. zu verwenden.

„Deutschland hat die Digitalisierung nicht ver-schlafen, sondern unterdrückt“
(Süddeutsche Zeitung, 23.11.2020, https://www.sueddeutsche.de/digital/digitalisierung-politik-kommentar-1.5112615)

Was in manchen Arbeitsbereichen schon selbstverständlich ist, ist in den Arbeitsfeldern Schule, Fortbildung und Beratung für viele noch Neuland. Während die einen anfangen, sich das Neuland (natürlich unter dem Druck der höheren Macht Corona) zu erschließen, richten sich die anderen schon auf das Ende von Corona ein, bei dem sie dann (endlich) wieder zur gewohnten alten Normalität zurückkehren können. Doch wenn wir Lern- und Veränderungsprozesse von den Herausforderungen der Menschen und den entsprechenden Zielen und Aufgaben herdenken, dann hat die Corona-Beschränkung fast paradoxe Auswirkungen: sie zeigt neue Möglichkeiten der Entgrenzung von Prozessen auf. Was den Blick darauf trübt, ist erst einmal der katastrophale Zustand der Infrastruktur und der technischen Voraussetzungen. Viele Bereiche (Schule, soziale Arbeit, etc.) waren zu Beginn der Krise nicht mit den entsprechenden Endgeräten ausgestattet, von einer stabilen Internetverbindung ganz zu schweigen. Und ganz zu schweigen davon, was es über eine Gesellschaft und ein Land aussagt, das immer noch glaubt, zu den besten der Welt zu gehören, wenn der häufigste Satz in Videokonferenzen heißt: „Hört man mich?“ Und auf die Frage: „Welchen Browser benutzen Sie?“ die Antwort lautet: „Fritzbox.“ Das mag auf den ersten Blick lustig erscheinen, zeigt aber die ganze Misere auf. Das macht deutlich, dass viele sich nicht wirklich entsprechende notwendige digitale Kompetenzen angeeignet haben. Sie mussten es auch nicht. Da wurschteln sich Erwachsene, die sich berufen fühlen, Kinder und Jugendliche „auf den richtigen Weg zu bringen“ durch, während Ihre Zielgruppe zu der Bevölkerungs-gruppe gehört, die fast vollständig im Internet unterwegs ist und für die der Online-Raum zu einem wichtigen Teil ihres Sozialraumes geworden ist. (Sehr lesenswert die jährlich erscheinenden JIM-, KIM-, Mini-KIM-, FIM- Studien, die jährlich das Mediennutzungsverhalten von Kindern, Jugendlichen und Familien untersuchen. So nutzten bereits 2018 rund 94% der Zwölf- bis 13-Jährigen Online-Dienste. https://www.mpfs.de/startseite/ )
Teilhabe in der Gesellschaft, sozial, beruflich und gesellschaftlich, wird wesentlich von der Möglichkeit und der Kompetenz abhängen, sich auch in der Online-Welt orientiert zu bewegen. Wer also Menschen „bilden“ will, sich berufen fühlt, Benachteiligung abzubauen oder gar Teilhabe zu ermöglichen, wird um diese Online-Welt nicht herumkommen. Ganz zu schweigen davon, dass die Zukunft dieser Gesellschaft und damit die Bewältigung der Herausforderungen davon abhängt. Das heißt aber nicht, wie manche befürchten, dass jetzt einfach nur alle Prozesse ins Internet verlegt werden. Das ist nur Ausdruck des „alten Denkens“ einer auf den Mythos der ausschließlich auf Präsenzprozesse ausgerichteten Vor-Corona-Zeit.

Online wegen Corona oder hybrid wegen der Her-ausforderungen und der damit einhergehenden Lern- und Veränderungsprozesse? Entgrenzung statt Begrenzung.

Es geht nicht um die Digitalisierung von Prozessen, sondern um die Entgrenzung von Prozessen. Nehmen wir das Beispiel „Online-Beratung“. Hier wurde ich in den letzten Wochen vermehrt angefragt für Schulungen. Weil viele jetzt unter Corona-Bedingungen vermehrt auf Online-Beratungen zurückgreifen müssen, bevor Beratung sonst vielleicht gar nicht stattfindet. Ein paar methodische Tricks und Kniffe, damit wir gut durch die Corona-Zeit kommen. Aber wenn man dann genau hinschaut, entdeckt man plötzlich, dass sich da ganz neue Prozesse schon lange vor der Corona-Pandemie entwickelt haben. Prozesse, bei der die zentrale Perspektive nicht ist, wie man jetzt am Telefon oder über Videokonferenz gut beraten kann. Sondern wie man den Beratungsprozess grundsätzlich nicht mehr von der Berater:in her denkt, sondern von der „Beratungskund:in“. Auf welchem Wege möchte diese Kontakt aufnehmen und beraten werden? Macht es Sinn, bedürfnis- und kontextbezogen den Kommunikationskanal zu wechseln? So könnte eine Beratung auch über E-Mail beginnen, in einem Beratungsraum Zwischenstation machen, um dann per SMS Zwischenfragen und Rückmeldungen auszutauschen. Analog zum „Blended Learning“ sprechen wir dann vom „Blended Counseling.“ Das hat weitreichende Konsequenzen: es ist dann nicht mehr die Berater:in, die die Zugänge zu Beratung allein bestimmt. Wir denken dann von den Menschen, Themen, Herausforderungen und Kontextbedingungen her. Wir ermöglichen entsprechend der Unterschiedlichkeit von Menschen die unterschiedliche Gestaltung von Prozessen.
Wenn ich ehrlich bin, habe auch ich diese Prozesse vor der Corona-Pandemie nicht wirklich nach diesen Aspekten ausgerichtet. Heute denke ich immer mehr Prozesse von den Beteiligten und den entsprechenden Zielen und Anliegen her hybrid und verknüpfe Elemente aus dem Präsenzraum mit Elementen aus dem Online-Raum. Dadurch lösen sich fest eingespielte Formate auf. Selbst Arbeitsformate wie Beratung, Supervision und Training sind letztendlich Begrenzungen von Prozessen durch die Definition von Formaten. Zu mir kommt niemand in die Beratung wegen der Beratung. Zu mir kommen Menschen mit Themen, Fragen, Anliegen, Bedürfnissen. Und im Prozess wechselt dann häufig der Bedarf. Mal braucht es beratende Fragen, mal Information, mal Angebote zur Reflexion und mal wäre Austausch mit anderen wichtig. So kann ich durch entsprechend erarbeitete unterstützende Instrumente, wie Literatur- und Themen-Padlets, zum Beispiel in einer Beratung zum Selbstmanagement auf entsprechende Instrumente und Werkzeuge zur eigenständigen Vertiefung verweisen. Dort finden die Kund:innen weitere Informationen bis hin zu Anleitungsvideos. Sie entscheiden dann selbst, ob und wie tief sie den Angeboten folgen, selbstgesteuert und selbstwirksam. Inzwischen habe ich auch eine Möglichkeit gefunden, meine eigenen Lernpfade im Internet (z.B. Recherchen zu einem Thema) als ergänzende Ressource zur Verfügung zu stellen. So teile ich über raindrop.io themenbezogen und mitwachsende Linksammlungen. Schaut man sich z.B. das Selfhelper-Programm (https://www.benfurman.com/selfhelper/) von Ben Furman an, sieht man, wie Menschen dazu angeleitet werden können, sich selbst zu beraten bzw. ihre eigenen Prozesse zu strukturieren oder gar schon vor einer Beratung an ihrem Thema zu arbeiten. Was sich damit verändern kann, ist unser grundsätzliches Lernverständnis und damit auch das Verständnis unserer eigenen Rolle. So haben sich vielleicht nicht gerade zufällig die Begrifflichkeiten verändert. Während wir in der (Präsenz-) Schule noch von Lehrplänen, Lehrer- und Klassenzimmern sprechen, sprechen wir im Online-Raum von Lernplattformen und von Selbstlernphasen.

Selbstgesteuertes Lernen, Eigenverantwortung oder Fremdverantwortung

Natürlich tun sich manche schwer mit diesen neuen Online-Formen. Auch das spiegelt sich in Rückmeldungen wider. Da fällt es eben schwer, sich Lernzeiten im Alltag einzuplanen und wider die Alltagsanforderungen einzuhalten. Das aber ist doch auch ein Hinweis auf die eigene Haltung, eigene Priorisierungen und die eigenen Selbststeuerungskompetenzen. Wenn wir Präsenz-Fortbildungen ansetzen, über-nimmt die Steuerung von Zeit, Raum, Struktur und Organisation von Anfang an die Referent:in. Ich habe dann halt mittwochs im Bildungshaus XY anzutreten und bin dann bis Donnerstagabend von der Referent:in durchgeplant. Um allen Missverständnissen deutlich vorzubeugen: ich rede hier nicht der Abschaffung von Präsenzfortbildungen das Wort. Ich zeige nur Prozesse auf, die meines Erachtens durch die entsprechenden Unterscheidungen und Rückmeldungen sichtbar werden. Es gibt Prozesse, die sind im Präsenzraum eher möglich, denken Sie zum Beispiel an informelle Kommunikationsprozesse beim Frühstück und Abendessen. Und andere Prozesse sind besser online möglich, z.B. niedrigschwelliger, näher an dem Zeitpunkt, zu dem spezifische Inhalte oder Kompetenzen gebraucht werden asynchron zu lernen und zusammenzuarbeiten.
Die von manchen beschriebenen Nachteile des On-line-Lernens und Zusammenarbeitens haben nichts mit dem Kanal („online“) zu tun, sondern mit unseren Gewohnheiten, Haltungen und gelernten Mustern. So ist man leicht in der Gefahr, wenn man im Arbeitsalltag selbst und eigenständig seine Lernzeiten organisieren und gestalten muss, diese als Puffer für alles andere Wichtige zu nutzen. Diese Form des Lernens bringt Teilnehmer:innen eben nicht nur in Lernprozesse zu den Themen und Inhalten, sondern auch über sich selbst. Wie viel Raum räume ich meiner eigenen Weiterentwicklung, meinen Lernprozessen im Arbeitsalltag ein? Wie übernehme ich dafür selbst Verantwortung? Wie steuere ich mich selbst? Daher ist in den von mir angebotenen Selbsterkundungsphasen meistens ein fester Bestandteil eine kurze Einheit zum Thema: „Wie organisiere ich meine Lernprozesse bzw. Lernzeit?“ Dabei werden wichtige „Metakompetenzen“ angeregt. Wer lernt, seine eigene Selbststeuerung zu aktivieren und zu vertiefen, lernt eben auch, sich Inhalte und Themen anders, nachhaltiger und auf seine eigene Art und Weise anzueignen, anzuwenden und weiterzuentwickeln.

Berater:innen, Trainer:innen, … : Veränderung der Rolle und des Selbstverständnisses vom (Be-) Lehren zum Gestalten von Kontexten für selbst-gesteuerte und eigenverantwortliche Lern- und Veränderungsprozesse

Das hört sich zwar etwas sperrig in der Zwischenüberschrift an, aber wenn wir uns als Berater:innen oder Lehrer:innen begreifen, verstehen wir uns als Vertreter:innen von Formaten und damit von Begrenzungen. Dann müssen wir eben diskutieren, wo Lehre endet, ob wir gerade Beratung oder Supervision machen. Doch das ist die Perspektive der „Profis“ und nicht der Kund:innen. Die suchen Lösungen auf ihre Fragen und Herausforderungen. Doch wenn wir von unseren Teil-Nehmer:innen her denken, dann geht es darum, einerseits die Fragen und Herausforderungen zu verstehen und einen dafür förderliche Kontext und einen hilfreichen Rahmen zu schaffen. Dann aber sollten wir von Teil-Geber:innen ausgehen, die in ihrer Unterschiedlichkeit ganz eigene Lernpfade beschreiten und auf bereichernde Art und Weise ihren Teil zu den entsprechenden Prozessen beitragen (Teil geben) und nicht Inhalte konsumieren (Teil nehmen). Und in dem sie nicht sagen: das war eine gute Beratung, sondern: ich habe mir einen wichtigen Schritt erarbeitet, dieser wechselseitige gemeinsame Prozess hat für mich einen relevanten Unterschied gemacht.

Von der Zer-schöpfung zum Aufbruch

Mich hat diese Zeit an der ein oder anderen Stelle zer-schöpft, weil die letzten Wochen und Monate ein Kampf mit vielen unnötigen Begrenzungen war. Und andererseits habe ich ganz neue Lernpfade beschritten. Dabei habe ich gerade in den Erfahrungen des Scheiterns viel über meine eigenen Begrenzungen in der Gestaltung von Lern- und Arbeitsprozessen gelernt. Ich bin dankbar für die Menschen, die ich zwar bisher nicht in Präsenz-Begegnungen kennenlernen durfte, denen ich aber online gefolgt bin (stellvertretend für die vielen: Nele Hirsch, e-Bildungslabor, https://ebildungslabor.de/); die meine Arbeit durch ihr Mit-Teilen von Erfahrungen, möglichen Wegen und kritischen Fragen bereichert haben. Und die damit die Seite in mir gestärkt haben, die aufgebrochen ist, die eigenen Wege kritisch zu beleuchten. Diese Seite ist nicht mehr bereit, nach Corona zu der Zeit vor Corona zurückzukehren. Sondern die Lernimpulse mitzunehmen. Denn am Schluss ist das das größte Geschenk des Lebens: ständig lernen zu dürfen und sich weiterzuentwickeln. Nicht das Bestehende durch Begrenzungen zu sichern, sondern das Bestehende durch Entgrenzung weiterzuentwickeln.

Gehe zurück auf Los, ziehe keine 4.000€ ein. Corona bleibt, Impulse zur Re-fokussierung in Krisenzeiten.

 

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Gehe zurück auf Los und ziehe keine 4.000€ ein“, so oder so ähnlich steht es auf einer der Ereigniskarten aus dem Spiel „Monopoly“ … und so beschreiben viele ihre Erfahrungen mit der Corona-Pandemie vor und nach den Sommerferien. Wieder haben wir Schulferien hinter uns und irgend­wie waren die Oster-, Pfingst- und Sommerferien besondere Wegmarken auf der Reise durch Corona-Zeiten. Ich erinnere mich noch, wie ich mit vielen gehofft hatte, dass der Spuk nach Ostern vorbei sein möge. Das wiederholte sich zu Pfingsten und dann zu den Sommerferien. Heute haben wir Gewissheit, dass uns die durch Corona ausgelösten Prozesse bleiben werden. Und dass die Corona-Pandemie den Rahmen, in dem wir leben und arbeiten, verändert hat und weiter verändern wird. In den letzten Monaten habe ich Prozesse der Re-Orientierung auf unterschied­lichen Ebenen (persönliche Prozesse und Prozesse in Organisationen und Institutionen) begleitet und bin selbst durch solche Prozesse gegangen. Und die Lern­kurve war sehr steil und ebenso anstrengend und bisweilen auch schmerzhaft.

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„(Neue) Normalität“ oder „Das endlos Offene“: Bewegliches Lernen

Heute ahnen wir, dass uns das Unberechenbare, das Risiko, die Ungewissheit und die Verunsicherung blei­ben werden. Carolin Ehmcke nennt das in ihrem Corona-Tagebuch in der Süddeutschen Zeitung das „Endlos Offene“. Und dieses endlos Offene klopft immer in Wellen an die Tür: erste Welle, zweite Welle, rauf und runter. Es ist eben nicht ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen und einfach nur Ex­pert:innenwissen organisieren, und schon ist es ge­löst. Es ist eine Krise und Krisen sind nicht wie ein Problem lösbar.  Denn gerade das, was bei Problemen hilft: der Rückgriff auf Expertise, Erfahrungen, Kom­petenzen, bewährte Standards ist jetzt das Hindernis. Und deshalb bescheren uns Krisen immer erst einmal „Erfahrungen des Scheiterns“ im Versuch, dem Neuen (der Krise) mit dem Alten (unsere Erfahrungen, Rou­tinen, Standards, Konzepte, Pläne, …) zu begegnen. Daher ist die zentrale Herausforderung in Krisen das „bewegliche Lernen“: in kleinen Schritten Erfahrun­gen sammeln und aus ihnen für die nächsten Schritte lernen. Das braucht Reflexion, Austausch, Fragen, Diskussion, alles das, was wir uns mit dem unsäg­lichen Begriff des „Social Distancing“ genommen haben. Der Virus überträgt sich nicht über das „Sozia­le“ sondern über Tröpfchen und Aerosole, die sich bei körperlicher Nähe, in geschlossenen Räumen übertra­gen können. Dafür gibt es Regeln, die das Risiko redu­zieren können. Und mit jedem Hot Spot, jedem An­steigen der Infektionen bekommen wir die Unver­nunft vieler gespiegelt. Nicht das „Soziale“ muss ver­mieden werden, sondern bestimmte Formen, wie wir das Soziale gestalten. Und diese wichtige Anfor­derung: 1,5m Abstand, Masken tragen, wenn Abstand nicht geht, Räume lüften und Lösungen finden für den Umgang mit dem Risiko durch Aerosole, gestaltet den Rahmen für das Leben und Arbeiten. Und hier können wir uns ganz bewusst entscheiden zwischen …

Gestaltet wer­den oder Gestalten:  vom Krisenmodus zum fokussierten Modus

Es lohnt sich, zurückzuschauen, wie wir selbst, aber auch die Organisationen mit der Corona-Krise in den letzten Wochen und Monaten umgegangen sind. Wir können daraus sehr viel lernen für die „Neue Normali­tät“, wo keiner weiß, ob es die jetzt schon da ist („Das end­los Offene“). Denn die alte Normalität wird so nicht wiederkom­men. Wie sind wir mit der Krise und den Herausfor­derungen umgegangen? Was war dabei hilf­reich, hat uns weitergebracht, das „Gestalten“ gestärkt? Und was hat uns eher eingeladen zum „Abtauchen“, in eine Art Lähmung, Verharrung? Was hat eingeladen, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, dieses not­wendige neue Wissen, die neue Erfahrung durch Aus­tausch, gemeinsames Scheitern und Lernen, beweg­lich mit den immer wieder neuen Herausforderungen umzugehen? Uns vom Krisenmodus hin zum fokus­sierten Modus, mit dem Blick auf den nächsten (Ent­wicklungs-) Schritt zu bewegen? Und was hat uns gerade nicht geholfen, uns (aus-) gebremst, entmu­tigt, de-fokussiert? Was hat uns wie orientiert zwi­schen „Was geht nicht mehr, was dürfen wir nicht mehr…?“ und „Was braucht es jetzt als nächstes, was ist möglich, wie können wir es möglich machen?“ Was hat eher eingeladen, den Blick nach oben zu richten mit der Erwartung „Sagt uns was wir tun sollen!“ und was hat eher angeregt, mitzudenken, sich zu beteili­gen, gemeinsam die unterschiedlichen Erfahrungen zu nutzen und daraus neue Lösungen zu entwickeln?
Diese Zeiten lehren uns viel über uns selbst und über unsere Organisationen, (Zusammen-) Arbeitsprozesse und Führungsprozesse und die dahinter liegenden Menschenbilder. Sind diese Prozesse von dem Bild geprägt, dass Menschen gestalten, sich entwickeln wollen, wichtige Erfahrungen, Kompetenzen und Potenziale in Prozesse einbringen wollen und können? … und dass Menschen sehr wohl Verantwortung übernehmen, wenn man sie lässt? Oder misstraut man den Erfahrungen und Motiven, glaubt, alles re­geln zu müssen, weil Menschen sonst verantwor­tungslos handeln und „Unsinn“ machen? In dem einen Fall entstehen eher Rahmenbedingungen, in denen Menschen gerade mit ihren Unterschieden gemein­sam gestalten und ihre Unterschiede als Potenziale nutzen, bei allem, was dabei auch konflikthaft mitei­nander ausgetragen werden muss. Oder glaubt man, den Menschen oder Mitarbeiter:innen das Denken abnehmen zu müssen, indem man sie knapp hält mit Information, bevorzugt auf Weisung und Kontrolle setzt, kleinteilige (rigide) Vorgaben gestaltet und so passives Arbeitsverhalten und Demotivation produ­ziert?  Dies betrifft auch die teilweise unsägliche Kri­senkommunikation, den Umgang mit Informationen, die mangelnde Transparenz, die fehlende Bereit­schaft, gemeinsam mit Betroffenen auch nach zweit­besten Lösungen zu suchen. So wie es teilweise be­obachtbar war im Umgang mit den Schließungen der Kitas, den Schulschließungen und dem Fernlernen (mit dem wieder unsäglichen Begriff des „Home­schooling“, der bis Corona für eine Bewegung in Ame­rika stand, die bewusst ihre Kinder dem staatlichen Schulwesen entzieht und häufig auf der Vorstellung evangelikaler, rechter Vorstellungen selbst beschult.)
Diese Fragen haben nicht nur eine Bedeutung für den Umgang mit den coronas­pezifischen Themen (Hy­gienekonzep­te) sondern sie werden meines Erach­tens mitent­scheiden, wie wir und die Organisatio­nen, in denen wir arbeiten, die sich im Moment ab­zeichnenden grundlegenden notwendigen Verände­rungsprozesse bewältigen. Wie Sie durch die Krise kommen oder ob sie darin stecken bleiben, im schlimmsten Falle zu Grunde gehen.

Die Krise und ihre Herausforderungen sind nicht kompliziert sondern  komplex!

Viele der Krisenmanager:innen im Kleinen wie im Großen handelten so, als würde es sich bei der Corona-Krise um ein kompliziertes Problem handeln, statt zu erkennen, dass es nicht um ein Problem, son­dern um eine Krise mit hoher Komplexität handelt. Kompliziert (ein kompliziertes Problem) ist etwas, das wir nicht lösen können, weil uns Wissen fehlt, weil wir nicht die Expertise haben. Wir behandeln die Corona-Krise wie ein „Problem“ und suchen nach dem nöti­gen Wissen. So suchten wir das Heil lange aus­schließlich im Wissen der Epidemiologen, dem Ruf nach der Wis­sen-schaft. Unabhän­gig davon, dass die auch nicht alles wusste, sondern auch neu er­kunden musste, sind die Herausforderun­gen, die mit der Krise einher gingen und gehen nicht kompliziert sondern vor allem komplex. Komplexität ist gekennzeichnet von Überraschungen, von einer unvorhersehbaren Dynamik. Das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren ist nicht wirklich voraussag­bar, sondern dynamisch, bisweilen chaotisch. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich ganz andere Umgangsweisen mit den entsprechenden Herausfor­derungen. Kompliziertes („Verstehen“ organisieren, Bedienungsanleitungen und Standards entwickeln) wird gemanagt durch Regeln, Standards, Anordnun­gen, formale Strukturen, Routinen, hierarchische Fremdsteuerung. Top-Down-Kontrolle, Oben-Unten, Informationsmacht, etc.
Komplexität verlangt einen ganz anderen Fokus: es braucht Grund-Orientierungen und Prinzipien (z.B. Hygieneprinzipien statt eine Hygienevorschrift, die dann kontextunabhängig überall gleich umgesetzt werden muss). Austausch, Kommunikation und Dia­log helfen, unterschiedliche Erfahrungen und Kompe­tenzen nutzbar zu machen für die Entwicklung neuer Ideen. So können unterschiedliche Erfahrungen in­nerhalb der Organisation, aber auch außerhalb der Organisation vernetzt werden. So war beobachtbar, dass dort, wo die Krise besser bewältigt wurde, bzw. wird, temporäre interdisziplinäre, organisationsüber­greifende, sozialraumorientierte Teams entstanden. Hier bekam Führung eine ganz andere Rolle: sie ge­staltete genau dafür einen förderlichen Rahmen. In­formation und Verantwortung wurde geteilt, den Mitarbeiter:innen nicht vorgegeben, was sie jetzt zu tun haben (Geht ins Homeoffice, räumt Büros auf, kümmert Euch um liegengebliebene Aufgaben z.B. schreibt Konzepte). Vielmehr wurden Prozesse dezentrali­siert, um möglichst passgenau zum je­weiligen Kontext Ideen zum Umgang mit den Herausforde­rungen zu entwi­ckeln. Es wurden kleinschrittiger Ziele gesetzt: was braucht es als nächstes. Im­mer wieder wurden gemeinsam Entwick­lungen und Auswir­kungen des eigenen Handelns beobachtet und reflek­tiert, um daraus zu lernen und das Gelernte gleich wieder in den nächsten Prozessschritten zu berück­sichtigen. Ziele wurden als Orientierung genutzt, um dann im Wirken der dynamischen Kräfte nicht das (eine) Richtige zu tun (und damit zu scheitern) son­dern die Richtung im Blick mit den dynamischen sich ständig verändernden Kräften auseinanderzusetzen und sich beweglich anzupassen. So wie es beim Se­geln in stürmischen Zeiten nicht hilft, in Fixierung des Ziels die Winde und Wellen zu ignorieren. (in Orientie­rung an dem Konzept „Polynesisches Segeln“ von Gunther Schmidt)

In widerstreitenden Zielkonflikten  gibt es keine unschuldigen Lösungen

Krisen bringen unauflösbare widerstreitende Zielkon­flikte mit sich, so wie wir es jeden Tag erlebt haben. Zwischen „die Wirtschaft aufrechterhalten“ und „das Infektionsrisiko durch Beschränkungen einschrän­ken“, zwischen „Datenschutz“ und „über nicht daten­schutzkonforme Kanäle Kinder und Jugendliche errei­chen“, zwischen „Entwicklungs- und Bildungszielen“ einerseits und „Hygienebedingungen“ andererseits. Und hier gibt es keine unschuldigen Lösungen. Der Versuch, sich jeweils über seine Funktion auf eine Seite der Ambivalenz zurückzuziehen ist dabei keine Lösung, sondern ein Sich-Drücken vor der Verantwor­tung. So habe ich es immer wieder erlebt, dass sich Funktionsträger:innen in Organisationen entspre­chend ihrer Abteilungszugehörigkeit einfach auf eine Seite geschlagen haben. So pochte die IT-Abteilung auf den Datenschutz und die Sozialarbeiter:in auf die Notwendigkeit,  über nicht da­tenschutzkonforme Kanäle Zugang zu Kindern zu finden, um im Sinne von Entwicklungs­bedürfnissen der Kinder und des Kindeswohls aktiv zu werden. Doch die Verantwortung für Kinder kann nicht geteilt wer­den. Eine Organisation, wie z.B. eine Schule oder eine Jugend­hilfeeinrichtung ist als Ganzes verantwortlich und muss als Ganzes Lösungen suchen. Die Idee, man könne sich wider­spruchsfrei und unschuldig auf eine Seite schlagen, ist eine verständliche, aber eine, die sich noch ungünstiger auswirkt. Und dabei mehr Schaden anrichtet, als wenn gemeinsam, mit dem Fokus auf die Men­schen, um die es geht, z.B. Kinder, um Lösungen ge­rungen wird; versucht wird den Weg (die Lösung) mit den am wenigsten negativen Auswirkungen in beiden Zielbereichen zu finden. Dafür aber braucht es eine Bereitschaft, diese Ambivalenz anzuerkennen und gemeinsam dafür Verantwortung zu übernehmen. Ich hätte mir in der ein oder anderen Organisation ge­wünscht, dass Datenschutzbeauftragte nicht sagen „das geht aus Datenschutzgründen nicht“ und in de­nen stattdessen ambivalenzfreudige Führungskräfte immer wieder einen Rahmen gestalten, in denen bei­de Seiten gemeinsam an Lösungen arbeiten.

Navigieren auf Sicht, „quick & dirty“, iteratives Prinzip

Die Corona-Krise hat uns gefordert und fordert uns noch in der Art und Weise, wie wir uns Ziele setzen, fokussieren und Schritte gehen. Waren wir vor der Krise gewohnt, ausführlich und gründlich Ziele zu klären, ausführliche Konzepte zu schreiben und lange Planungsprozesse zu durchlaufen, scheiterten die als erstes, die genau daran festhielten. Ich kann mich erinnern, wie ich vor Ostern anfing, mit genau dieser Haltung meine Arbeitsprozesse in den Online-Raum zu übertragen (Online-Fortbildungen, Online-Supervisionen und -Beratungen). Ich scheiterte kläg­lich und kam nicht wirklich voran. Und in den Aus­handlungsprozessen mit meinen Kund:innen vor einer Absage doch zu prüfen, wie wir gemeinsam neue Wege gehen, beobachtete ich dies auch manchmal dort. Gefordert war etwas anderes: sich schnell wie­der zu orientieren und ins Han­deln zu kommen. Geholfen hat mir das Bild vom Nebel: Ich weiß zwar, wo ich hin will, aber ich sehe wegen des dichten Nebels nur die nächsten fünfzig, hun­dert Meter. Also waren zwei Dinge wichtig: die Richtung klar zu haben und dann umzuschal­ten auf die nächsten Meter: Navigieren auf Sicht, von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Da­bei half mir besonders ein Satz aus einem kollegialen Aus­tausch: mach es „quick & dirty“. Ich gab mir die Er­laubnis, meine Ansprüche in Anerkennung der nicht veränderbaren Krisenbedingungen herunterzu­schrauben. Ich lernte, dass es wichtiger ist, loszulegen als eine perfekte Vorstellung, einen umfassenden Plan zu entwickeln. So entstanden schnell neue Unterstüt­zungsangebote für meine Kund:innen. Ich konnte online schon nach Ostern herum einen landesweiten Online-Austausch (Ba-Wü) mit Fachkräften der Schulsozialar­beit mit 180 Teilnehmer:innen durchfüh­ren, obwohl ich zwei Wochen zuvor weder ein Headset besaß, noch Ahnung hatte von Videokon­ferenzen und den entsprechenden Tools. Es folgten zahlreiche Corona-Praxiswerkstätten, in denen ich einen Rahmen für die beschriebenen Re-Fokussierungsprozesse gestaltete. Dabei half mir, im Sinne eines iterativen Prinzips, mich in kleinschrit­tigen Lernschleifen immer wieder an die jeweils ge­sammelten Erfahrungen anzupassen. Die Richtung im Blick, wechselten sich kleinschrittig (auf kurze Zeit­räume bezogen, in der Regel auf eine Woche) Planen, Handeln, Auswerten ab. Ich beobach­tete, dass viele, die schnell wieder in eine gestaltende Rolle kamen, im Grunde auch diese drei Prinzipien bewusst oder un­bewusst berücksichtigten: Navigieren auf Sicht, „quick & dirty“, iteratives Lernprinzip.

Die Krise als Brennglas, Katalysator für Themen die vorher schon da waren

Für mich, aber auch für meine Kund:innen war und ist die Krise wie ein Brennglas für Themen, die es schon vor der Krise gab. Die bereits hier angesprochenen Aspekte verweisen darauf: wie zieldienlich und hilf­reich haben wir Prozesse der Zusammenarbeit, Füh­rungsprozesse, den Umgang mit komplexen Themen, die Fokussierung auf die Bedürfnisse unserer Ziel­gruppen und die Kund:innen gestaltet? Mit dem Ver­weis auf die Krise war plötzlich vieles möglich, im ungünstigen, aber auch günstigen Sinne. Da wurden Rituale und Standards außer Kraft gesetzt, plötzlich Vernetzungsprozesse ermöglicht, in hohem Tempo Prozesse auf Online umgestellt, wie es vorher nie­mand für möglich gehalten hätte. Ich gestehe, dass ich das Thema, meine Arbeit mehr zu digitalisieren und online zu gestalten, schon seit Jahren auf meiner ToDo-Liste stehen hatte. Und niemals hätte ich mir träumen lassen, was in einem halben Jahr möglich ist. Ich habe viel klarer unnötige und überholungsbedürf­tige Routinen gestrichen, mich ganz anders und neu organisiert. Gleiches habe ich in der ein oder anderen Organisation beobachtet und auch beruflich begleiten dürfen. Daher glaube ich, dass wir im Moment in ei­nem günstigen Zeitfenster sind, um aus der Krise nicht nur für die Krise zu lernen. Hierin liegt, auch wenn die Krise uns stellenweise viel gekostet hat, eine Chance. Denn mit zunehmender (neuer) Normalität, ist die Verlockung groß, wieder – ohne dies kritisch zu prüfen -, in die alten Muster und Routinen zurückzu­fallen oder bereits jetzt schon davon zu träumen. Was von dem, was im zieldienlichen Sinne plötzlich mög­lich war, lohnt sich beizubehalten? Welche der Rou­tinen, die wir coronabedingt gestrichen haben, kön­nen wir auch zukünftig sein lassen? Welche neuen Erfahrungen und Schritte waren hilfreich und lohnen es, in neue zukünftige Routinen überführt zu werden?  Was von den neuen Erfahrungen, den gewonnen Er­kenntnissen lohnt es, mit hinüber zu nehmen in die neue Normalität? Welche Themen haben sich als wirklich zentrale Entwicklungsthemen erwiesen und welche Themen glaubten wir, wären zentral wichtig, haben sich aber als unbedeutend herausgestellt? So wäre es vielleicht sinnvoll, die bisherige Coronazeit unter diesen Gesichtspunkten zu reflektieren. Und wenn ich noch einen Schritt weiter gehen darf, dann wäre es vielleicht sogar sinnvoll unser Reflektieren im Sinne des beschriebenen „iterativen Prinzips“ zu ver­ändern: also kleinschrittiger, regelmäßiger, systema­tischer bzw. fokussierter zu gestalten.

Demut und Dankbarkeit, für das was plötzlich möglich war

Und diese Corona-Krise, die ich manchmal verflucht habe, die mich stellenweise ärgerlicher, polarisierter gemacht hat, hat mich auch Demut und Dankbarkeit aufs Neue gelernt. Ich habe viele ärgerliche Prozesse beobachtet und selbst erlebt, in denen Menschen Gestaltung behindert haben, die neue Formulare entwickelt haben (z.B. „Unabkömmlichkeitsbeschei­nigungen“), denen Betretungsverbote wichtiger wa­ren, als die Suche nach Möglichkeiten, anders zu­sammen zu arbeiten, in denen leider das, was nicht geht, nicht erlaubt ist, nicht sein darf, im Vordergrund stand, statt nach dem zu suchen, was unter diesen nicht veränderba­ren Bedingungen möglich ist. Und ich hatte das Glück, auch auf Menschen zu sto­ßen, die wider die Kultur in ihrer eigenen Organi­sation, den Spiel­raum ausgelotet und geweitet haben, die ermöglicht haben, was vorher unmöglich schien. Die dabei auch Risiken eingegangen sind. Und ich habe aufs Neue Demut gelernt, das hinzunehmen, was nicht verän­derlich ist. Aber nicht mit Resignation sondern eben mit De-Mut.

In diesem Sinne: bleiben Sie gesund und zuversichtlich.

Ihr Uwe Straß

 

Erfolgreiche Corona-Praxiswerkstätten

Corona-Praxiswerkstätten gehen langsam dem Ende zu

Das hätte ich nicht gedacht. Was an Ostern 2020 mit einem landesweiten Austausch von 180 Schulsozialarbeiter:innen begann, fand eine erfolgreiche Fortsetzung in zahlreichen Corona-Praxiswerkstätten zur Re-Orientierung der Schulsozialarbeit in der Corona-Krise. Dabei konnten die insgesamt 220 Teilnehmer:innen mit Hilfe unterschiedlicher Impulse ihre eigene Situation reflektieren und gemeinsam neue Orientierungen und Strategien für eine erfolgreiche Schulsozialarbeit unter Corona-Bedingungen erarbeiten. Die vielen positiven Rückmeldungen haben mich sehr gefreut. Und diese Angebote haben gezeigt, was es in der Krise am meisten braucht: Austausch und kollaborative Zusammenarbeit. Gerade die Einzelkämpfer:innensituation war ein großes Hindernis in diesen schweren Zeiten die Arbeitsprozesse an die neuen Kontextbedingungen anzupassen. Beeindruckend war, wie viele Erfahrungen und neue Ideen über virtuelle Notizblöcke (Etherpads) ausgetauscht wurden. Und wie selbstverständlich dabei die Teilnehmer:innen sich einübten in die Nutzung digitaler kollaborativer Online-Tools.
Download Dokumentation Landesweiter Erfahrungsaustausch Fachkräfte Schulsozialarbeit in Baden-Württemberg:

http://www.uwestrass-online.de/DokuSchusoCo2020.pdf