Ver-frag-ung

Ver-frag-ung statt Ver-antwort-ung

In vielen Supervisionen, Beratungs- und Trainingsprozessen steht immer wieder die Frage nach der Verantwortung im Vordergrund. Für was bin ich in der Gestaltung von Lern- und Veränderungsprozessen verantwortlich? …für was mein Gegenüber, die Kund/in, die Teilnehmer/in, die jeweilige Gesprächs-partner/in? Schnell fühlen wir uns für Prozesse und deren Ergebnisse verantwortlich: Was kann ich noch anbieten? Wie kann ich ihr/ihm Lösungswege auf-zeigen? Was kann ich ihr/ihm raten, vorschlagen, empfehlen? Wie kann ich das Gespräch so führen, dass er/sie begreift, merkt, versteht, annimmt …? Und schon sind wir mittendrin im Verantwortungskarussell.
Häufig beginnt sich das Karussell schon im Prozess der Ziel- und Auftragsklärung zu drehen. Da fragen wir zwar noch nach den Zielen unseres Gegenübers, kaum glauben wir aber das Ziel verstanden zu haben, legen wir auch schon mit dem Arbeiten los. Zu schnell springen wir in die inhaltliche Arbeit am Anliegen unseres Gegenübers. Schnell vergessen wir, dass die Ziele unseres Gegenübers nicht unsere Aufträge sind. Eigentlich müsste man noch nachfragen, was denn die Erwartungen an uns, in Zusammenhang mit den geäußerten persönlichen Zielen sind. Eigentlich müssten wir prüfen, ob wir diese Erwartungen als Auftrag annehmen können oder ob wir nicht noch eine Runde Auftragsklärung drehen müssten. Schneller als wir es vielleicht wahrnehmen, fühlen wir uns verantwortlich und suchen nach Antworten auf die Fragen unseres Gegenübers. Und mit der wachsenden Verantwortung für die Antworten, steigt nicht selten die eigene Anspannung, spüren wir vielleicht Anzeichen von Anstrengung. Und wenn wir die erste Idee, Hypothese, den ersten Vorschlag entwickelt und unterbreitet haben, teilt sich auch schon unsere Präsenz auf. Ein Teil unserer Präsenz folgt unserer Idee, unseren Vorschlägen, lässt sich dazu verleiten, im Zweifelsfalle die Idee, wo sie doch für uns so nachvollziehbar ist, wiederholt zu erläutern, damit sie auch unser Gegenüber versteht. Natürlich nur mit den besten Absichten, zu helfen. Aber ein Teil unserer Präsenz ist dann eben nicht mehr bei unserem Gegenüber.
Erlauben Sie mir eine kleine wegweisende Wort-Spielerei. Schon das Wort „Ver-Antwort-ung“ deutet an, um was es geht: Ver-Antwort-ung für sich und seine Fragen zu übernehmen, heißt, selbst nach Antworten zu suchen. Wenn wir möchten, dass Menschen (Eigen-) Verantwortung übernehmen, dann sollten wir sie dabei unterstützen, selbst Antworten zu suchen, aus vorangegangenen Erfahrungen abzuleiten, sie aus den eigenen Ressourcen heraus zu entwickeln. So fördern wir die eigene Selbstwirksamkeitsüberzeugung, das eigene Kompetenzerleben, die eigene Gestaltungsfähigkeit. Das ermutigt dazu, auch in Zukunft auf Herausforderungen und Fragestellungen eigene Antworten zu suchen, Ver-Antwort-ung zu übernehmen. Was ist dann aber mit uns? Für was haben wir Ver-Antwort-ung? Haben wir überhaupt Ver-Antwort-ung für irgendetwas in der Gestaltung von Lern- und Veränderungsprozessen?
Wenn wir für etwas verantwortlich sein können, dann meines Erachtens für die Fragen, die wir stellen. Wenn unser Gegenüber Ziele formuliert, sollten wir fragen, was er oder sie diesbezüglich von uns erwartet. Dadurch werfen wir ihn auf seine eigene (Lösungs-) Verantwortung zurück. Und wir arbeiten mit dieser Frage klarer heraus, was eigentlich der Auftrag für unsere Arbeit ist, wofür wir verantwortlich sind. Danach können wir Fragen stellen, die unser Gegenüber unterstützen können, bei der Suche nach Antworten auf seine Ausgangsfragen, seine Bedürfnisse und Ziele. Wir können helfen, mit unseren Fragen hilfreiche Suchprozesse in unserem Gegenüber auszulösen, z.B. indem wir mit unseren Fragen einladen, auf bereits funktionierende Lösungen, auf Ressourcen, auf bereits ähnliche erfolgreich bewältigte Situationen zu fokussieren. Wir können uns im gemeinsamen Arbeitsprozess immer wieder mit Fragen vergewissern, wo unser Gegenüber gerade steht, welche Fragen hilfreiche Suchprozesse ausgelöst haben und welche Fragen vielleicht noch fehlen. Damit haben wir schon eine große Verantwortung. Ich würde gerne das Wort Ver-Antwort-ung an dieser Stelle ersetzen durch „Ver-Frag-ung“. Wenn wir für etwas wirklich verantwortlich sind, dann eigentlich fürs Fragen stellen. Dafür brauchen wir unsere ganze Präsenz und unsere Kompetenz. Die eigene Ver-frag-ung gilt es systematisch wahrzunehmen und auszubauen. Damit helfen wir unserem Gegenüber im besten Falle doppelt. Sie/er kann eigenverantwortlich die passenden Antworten auf ihre/seine Fragen, ihre/seine Ziele entwickeln. Und er/sie kann die von ihm als besonders hilfreich empfundenen Fragen als Modell für seine selbstständigen und eigenverantwortlichen Suchprozesse übernehmen. Nicht selten, dass ein Kunde eine Skalenfrage, eine Wunderfrage, eine Verschlimmerungsfrage mit nach Hause nimmt und sich damit selbst, ohne Unterstützung von außen, seine ganz persönlichen hilfreichen Antworten sucht.
Wenn wir Ver-Antwort-ung übernehmen, werden wir aktiv, produzieren Ideen und Ratschläge. Dadurch aber kommt unser Gegenüber leicht in eine passive Rolle, in der er/sie uns arbeiten lässt. Manchmal steckt hinter unseren sicherlich gut gemeinten und sicherlich auch brillanten Lösungsideen, ohne dass wir es wollen oder meinen, eine Abwertung unseres Gegenübers. Wenn es uns gelingt, in relativ kurzer Zeit eine vermeintlich passende Antwort zu unterbreiten, vermitteln wir eben schnell auch: „Sehen Sie, so schnell finde ich eine Lösung.“ Oder in der schlimmeren Variante „Wenn Sie nur so klug nachgedacht hätten wie ich, hätten Sie auch die Antwort finden können.“ Und wenn unser Gegenüber uns zurückmeldet „So kompetent wie Sie möchte ich auch sein,“ dann schmeichelt das zwar, aber es stärkt nicht die Eigen-Ver-Antwort-ung unseres Gegenübers.
Damit wir uns aber nicht missverstehen: Natürlich sind unsere Ideen, Hypothesen und Erfahrungen auch Ressourcen für die Gestaltung von Lern- und Veränderungsprozessen. Doch wie können wir diese so nutzen, dass sie unser Gegenüber nicht aus der eigenen Verantwortung entlassen? Indem wir mit der entsprechenden Präsenz für unser Gegenüber den passenden Moment abwarten, unsere Ideen eher in Fragen und als völlig unverbindliches Angebot, das jederzeit verworfen werden sollte, ins Gespräch einführen; indem wir unser Gegenüber fragend in seiner Autonomie stärken und er/sie unsere Ideen auch nur als Anfragen und nicht als Rezepte, als VorSchläge begreift und überprüft.
Wenn wir uns unserer Ver-frag-ung stellen, dann bleiben wir mit der Präsenz bei den Suchprozessen unseres Gegenübers. Unser Gegenüber bleibt in einer aktiven Rolle, die sich nicht auf das Annehmen oder Verwerfen von Lösungsvorschlägen bezieht. Wir stärken mit unserer Ver-frag-ung die EigenVerantwortung unsres Gegenübers. Dadurch aber könnten sich auch unsere Anfragen in Supervisionen oder eigenen Weiterbildungsprozessen ändern. Was brauchen wir, um unserer Ver-frag-ung gerecht zu werden? Brauchen wir mehr Fachkompetenz, mehr Expertise? Oder arbeiten wir an unserer neugierig-fragenden Haltung und entwickeln unsere Fragekompetenz weiter?

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